Göran Schattauer | Portfolio Categories storys
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Neun Waisenkinder halten zusammen

Bei einem Unfall in Thüringen starben die Eltern einer Großfamilie. Nun wollen die Kinder auch ohne Vater und Mutter ihr Leben meistern. Dabei erfahren sie Hilfe vieler Menschen. Eine traurige Geschichte, die Mut macht

 

Er ist ein Typ mit starkem Händedruck und klaren Prinzipien. Wolfgang Sell, Bürgermeister des thüringischen Ortes Pottiga, nimmt sein Ehrenamt ernst. Um die Gemeindekasse zu schonen, verzichtet der 59-Jährige auf die monatliche Aufwandsentschädigung von 435 Euro. Seinen Schreibtisch hat er aus alten Küchenplatten bauen lassen.

 

Vor einigen Monaten hat das Schicksal Pottigas erstem Mann eine Aufgabe in die Hände gelegt, die nicht zu seinen normalen Pflichten als Ortsvorsteher gehört. Die er aber angenommen hat und nun gewissenhaft ausführt. Es ist eine ernste Sache. Sie duldet kein Zaudern, kein Nachlassen und kein Wegducken. Seit November vergangenen Jahres unterstützt Sell eine neunköpfige Familie, die in dem 412-Seelen-Dorf wohnt. Eigentlich sind die Kipschs eine zerstörte Familie. Die Eltern André und Heike, 47 und 42 Jahre alt, starben bei einem Verkehrsunfall. Zurück ließen sie acht Kinder und einen Pflegesohn im Alter zwischen vier und 29 Jahren: Paul, Christoph, Tobias, Sebastian, Diana, Franziska, Andreas und Jennifer. Der Pflegesohn heißt Leon-Niklas, ein aufgeweckter Junge mit blonden Haaren und einem T-Shirt von „Bob der Baumeister“.

 

Die neun Waisen kümmern sich umeinander, so gut es eben geht. Die Älteren versorgen die Kleinen. Sie machen die Wäsche, kochen, putzen, reparieren die Fahrräder. Ohne den Bürgermeister aber wären sie verloren. Sell brachte die Behörden davon ab, die Kipsch-Kinder zu trennen und in Heimen oder anderen Familien unterzubringen. Er war es, der sich dafür einsetzte, dass die Waisen ihr Zuhause behalten können und nicht von Schulden erdrückt werden. Manchmal war er einfach nur da und hörte zu.

 

Ob es Tragödien gibt, die ein gutes Ende nehmen? Ja, die Geschichte der Kipsch-Kinder beweist es. Die Waisen halten zusammen, versuchen, ihr Leben ohne Eltern zu bewältigen. Der Bürgermeister hilft ihnen. Es helfen die Nachbarn, Menschen in der Region.

 

Viereinhalb Monate nach dem Unfall hat sich die Familie ein Stück Normalität zurückerobert. Die Kinder können wieder lachen, toben, streiten. Einer der Jungs ist Fan vom FC Bayern, ein anderer vom BVB, und alle wollen gleichzeitig mit der Wii-Konsole spielen. Die Mädchen haben Piercings, Tattoos und jede Menge Facebook-Freunde. Auf ihren Telefonen läuft Musik von Xavier Naidoo, Paul Kalkbrenner, Nickelback. Wenn es Probleme gibt im Job oder in der Liebe, haben sie ihre Geschwister. Ihre Eltern haben sie nicht mehr.

 

Am 29. November 2013 fuhren André und Heike Kipsch zum Einkaufen. Fünf ihrer Kinder und der Pflegesohn saßen mit im Ford Tourneo, einem geräumigen Auto, das sie sich extra für diesen Tag geborgt hatten. Auf dem Rückweg schaltete der Vater die Scheinwerfer an. Ruhiger Feierabendverkehr. Leichter Schneefall. Noch zwölf Kilometer bis nach Hause. Im Radio lief Bayern 3. Der 18-jährige Tobias hockte auf der Mittelbank. Er schaute durch die Frontscheibe. Auf der Gegenseite näherte sich ein Auto. Plötzlich scherte es aus. Der Vater riss das Steuer nach rechts. Er schrie: „Duckt euch!“ Im nächsten Moment krachten die Autos aufeinander. Der Familienwagen flog von der Straße, er drehte sich und wurde ein zweites Mal gerammt, diesmal im hinteren Teil. „Als ich das Auto auf uns zukommen sah, bin ich über den Sitz auf die Rückbank gesprungen“, berichtet Tobias. „Dort saßen meine Brüder.“ Schützend, wie ein menschlicher Airbag, warf er sich auf den vierjährigen Paul und den sechs Jahre alten Christoph. Sie überlebten. Neben ihnen hing die Mutter im Gurt. Tobias, der vor Kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte, fand bei ihr keinen Puls. Behutsam strich er die Haare aus dem Gesicht der Mutter. Ein Kuss auf die Stirn. Dann verschloss er ihre Augen. Der Vater war auf dem Fahrersitz eingeklemmt. Er atmete schwer. Tobias und sein Zwillingsbruder Sebastian beugten sich über ihn, tätschelten sein Gesicht. „Papa, du schaffst es, wir brauchen dich. Mama ist tot“, riefen sie. „Wir haben dich lieb!“ Der Vater bewegte die Lippen. „Hab euch auch . . .“ Dann starb er.

 

Warum traf es die Eltern? André Kipsch saß vorn, Heike hinten. Genau an diesen Plätzen bohrte sich der Transporter des Kurierdienstes UPS ins Familienauto. War Gott in diesem Moment abwesend? Oder war er da, um die Kinder zu retten? Gemeindepfarrer Tobias Rösler, der den Hinterbliebenen beistand, sagt: „Auf diese Frage weiß nur einer Antwort: Gott selbst.“ Vier Tage verbrachten die Waisenkinder im Krankenhaus. Dann kehrten sie zurück nach Pottiga, in ihr Elternhaus ohne Eltern. „Ich wollte erst nicht reingehen“, sagt die 22 Jahre alte Diana, „habe mich im Auto festgeklammert.“ Die kleinen Jungs weigerten sich zu schlafen. Sie bestanden darauf, dass Mama und Papa zurückkommen.

 

Romy Hinz, die Schwester der verunfallten Mutter, versuchte, die Kinder zu beruhigen. Die 41-Jährige wohnt schon länger mit im Haus der Kipschs, sie hat ein Zimmer im Erdgeschoss. Zu ihrem Job bei Burger King kommt nun eine zweite, viel größere Aufgabe: „Ich muss dafür sorgen, dass die Kinder zurück ins normale Leben finden.“ Aber wie soll das gehen? Das fragte sich auch Bürgermeister Sell. Nach dem Unfall war ihm klar: „Ich muss den Angehörigen zeigen, dass jemand für sie da ist, einer, auf den sie sich verlassen können.“ Als sein eigener Vater starb, war Sell 19. Für ihn eine Katastrophe, obwohl die beiden nicht immer einer Meinung waren. Dass er sich mit seinem Vater nicht mehr versöhnen konnte, quält ihn bis heute. Vielleicht setzt er sich deshalb so für die Waisen ein.

 

Anfangs sitzt Sell fast täglich mit ihnen zusammen. Gemeinsam beraten sie, wie es weitergehen soll. Wer erhält das Sorgerecht? Was wird aus dem Erbe? Wie kommen die Kleinen in den Kindergarten? Für alles findet Sell eine Lösung. Auch für die Schulden. Auf seine Initiative erlässt die Sparkasse einen Restkredit für das Haus in der Ortsmitte von Pottiga. Der Vater hatte es vor langer Zeit für seine Familie, zu der auch fünf Katzen gehören, gekauft. Viel Geld war nie da bei den Kipschs. Aber sie kamen ohne Hilfe des Staates aus, das war ihnen wichtig. Er fuhr jeden Tag Biogemüse aus, sie sortierte im Supermarkt Regale ein. Für einen Urlaub am Meer reichte es nie. Ihr Traumland Kanada sahen sie vom Sofa aus, mit der Fernbedienung in der Hand.

 

Am Familiensitz stehen dringende Reparaturen an. Das Dach ist undicht, Mauern sind feucht, die Fassade bröckelt. „Papa wollte das alles machen“, sagt Tochter Jennifer, 29. „Das Haus fertig zu bauen war sein großer Traum.“ Obwohl das Gebäude in einem sehr schlechten Zustand ist, wollen die Kinder auf keinen Fall ausziehen. Sie verbrachten ihr ganzes Leben hier, bei Vater und Mutter, die nun von zwei Fotos ins Wohnzimmer lächeln. Die Eltern hatten keine Lebensversicherung. Ihre Kinder warten bislang vergeblich auf eine Entschädigung durch den Unfallgegner. Damit die Bauarbeiten am Haus bezahlt werden können, richtete der Bürgermeister ein Spendenkonto ein.

 

Drei Wochen nach dem Unfall war Weihnachten. Wolfgang Sell besorgte der Familie einen Tannenbaum. An Heiligabend brachte er Geschenke. Menschen aus ganz Thüringen hatten Spielzeugpakete nach Pottiga geschickt, manche kamen persönlich ins Gemeindehaus. Ein Imker schenkte Honig, ein Uhrmacher Uhren, jemand lieferte Brennholz an. Die Rockband Frei.Wild spendete 10 000 Euro. Beim Adventskonzert in der Kirche wurde der Bürgermeister nach vorn gebeten. Besucher hatten Geld für die Waisen gesammelt. Als Sell sich bedanken wollte, versagte ihm die Stimme. „Es heißt ja oft, in Deutschland denke jeder nur an sich. Die Menschen seien kalt und herzlos.“ Doch die Anteilnahme nach dem Unfall sei überwältigend gewesen. „Die Familie hatte das Gefühl, nicht allein zu sein“, berichtet Sell. Nicht allein, das mag stimmen. Aber es bleibt ein Loch. Eine Leerstelle, die nichts und niemand füllen kann. „Papa fehlt mir sehr“, sagt die 23-jährige Franziska und beißt sich auf die Unterlippe. Oft denke sie, Mensch, das könntest du jetzt den Papa fragen. Wie gern würde sie ihm erzählen, was sie Tolles erlebt hat. Bestimmt wäre er stolz auf sie. „Doch das geht jetzt nicht mehr . . .“

 

Diana vermisst ihre Eltern. „Seit dem Unfall weiß ich erst richtig, was ich an ihnen hatte“, sagt die zierliche 22-Jährige. Viel zu oft hätten sie gestritten. „Das Verrückte ist: Ich kann ihnen nie wieder sagen, dass es mir leidtut.“ In Dianas Albträumen rast ein Auto auf sie zu. Einmal fragte der Psychologe: „Was fühlen Sie, wenn Sie einen UPS-Transporter sehen?“ Sie antwortete: „Hass.“ Der Todesfahrer, 25, hat sich bis heute nicht bei Familie Kipsch gemeldet. Vor wenigen Tagen klagte ihn die Staatsanwaltschaft an – wegen fahrlässiger Tötung in zwei und fahrlässiger Körperverletzung in vier Fällen. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Romy Hinz kümmert sich um die Kinder ihrer Schwester, als wären es die eigenen. „Irgendwie muss es ja weitergehen“, sagt sie. Regelmäßig fährt sie mit den Kleinen zur Stelle, an der der Unfall passierte. „Die fragen schon immer, wann sie Mama und Papa Blumen bringen dürfen.“

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Abfüllen und ausquetschen

Polizeiskandal in Thüringen: Beamte gaben einem Beschuldigten während der Vernehmung große Mengen Bier zu trinken – der Mann war Alkoholiker

 

Es war um 8.30 Uhr, als zwei Kripoleute gegen die Tür von Sven B. im thüringischen Rudolstadt hämmerten: „Polizei – machen Sie auf!“ Völlig verdaddert kam der 36-Jährige aus seiner Wohnung. Er soll einer Bande um den berüchtigten Neonazi Tino Brandt angehören. Die Gruppe steht im Verdacht, mit fingierten Unfällen Versicherungen betrogen zu haben (FOCUS 30/2015).

 

Noch bevor sich der Beschuldigte zu den Vorwürfen einließ, erklärte er den Fahndern, er sei Alkoholiker und habe heute schon einiges intus. Eine Beamtin rief B.s Arzt an, der die Abhängigkeit bestätigte. Ein Test auf dem Polizeirevier ergab 0,86 Promille. Eigentlich, so sollte man meinen, hätte das Verhör des angetrunkenen Hartz-IV-Empfängers nunmehr abgesagt werden müssen. Wurde es aber nicht. Nach FOCUS vorliegenden Akten bestanden die Polizisten auf einer Vernehmung – und reichten dem Beschuldigten während der zweieinhalbstündigen Befragung erhebliche Mengen Alkohol. Drei Flaschen Bier, insgesamt 1,5 Liter, gaben sie Sven B. zu trinken, angeblich auf dessen Wunsch. Nach der ersten Flasche stieg sein Atemalkoholwert auf 1,2 Promille, später wurden 1,09 Promille gemessen.

 

Dass Vernehmungsprofis einen Tatverdächtigen mit Bier abfüllen, kommt in Deutschland normalerweise nicht vor. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Es ist verboten. Experten stufen den Vorfall vom 2. September 2014 denn auch als Skandal ein. Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft: „Gegen ein solches Vorgehen spricht bereits Paragraf 136a der Strafprozessordnung zu verbotenen Vernehmungsmethoden.“ Darin sei klar geregelt, dass ein Beschuldigter in seiner Willensausübung nicht durch „Verabreichung von Mitteln“ beeinträchtigt werden dürfe. Wendt: „Das gilt auch, wenn der Beschuldigte ausdrücklich darum bittet.“ Empört zeigt sich Ulf Küch, Vizechef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Bei der Vernehmung von Beschuldigten sei die Verabreichung von Alkohol, Drogen oder Medikamenten „absolut tabu, ebenso wie Gewalt und Folter“. Kriminaldirektor Küch spricht von einem „erheblichen Verstoß gegen geltendes Gesetz“.

 

Die für das Betrugsverfahren zuständige Staatsanwaltschaft Gera sieht das Ganze lockerer. Sprecher Jens Wörmann sagte dem FOCUS, die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten sei durch das Bier „nicht beeinträchtigt“ gewesen. Er halte die Methoden der Beamten unter den gegebenen Umständen für „vertretbar“. Nach Auffassung der Anklagebehörde ergebe sich aus dem Vorgehen „kein Beweisverwertungsverbot“ wegen illegaler Vernehmungspraktiken.

 

Die Polizisten selbst sind sich keiner Schuld bewusst. Im Protokoll zur Vernehmung notierten sie, der Verdächtige habe seinen Willen „deutlich“ ausgedrückt. Gewollt hat Sven B. zunächst einen Anwalt. Vor der Vernehmung benannte er drei mögliche Verteidiger. Die wurden ihm verwehrt, weil sie in dem Verfahren bereits andere Verdächtige vertraten. Die Kripoleute rieten dem Arbeitslosen, er könne sich die Vorhalte ja erst mal so anhören. Dann reichten sie ihm Bier.

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Sex gegen Geld, Gold und Silber

Eine gut aussehende und ziemlich abgebrühte Schwäbin nahm zwei liebestollen Männern eine Million Euro ab. Nun wurde die notorische Betrügerin verurteilt

 

Sie muss unwiderstehlich gewirkt haben in ihrem sexy Outfit. Ein Männer verschlingendes Biest, das aufreizend an der Bar saß und Ausschau nach älteren Herren hielt. Herren, die sie leicht um den Verstand bringen konnte – und um viel Geld. Mehr als eine Million Euro leierte die heute 45 Jahre alte Patricia W. zwei liebestollen Männern aus dem Kreuz. Dafür musste sie sich noch nicht einmal anstrengen. Ein kurzer Flirt, ein paar wilde Nächte, eine herzzerreißende Geschichte. Und schon überhäuften sie ihre Verehrer mit Geld, Gold und Silber.

 

Dem märchenhaften Aufstieg der Hartz-IV-Empfängerin zur steinreichen Femme fatale folgte der Absturz: Untersuchungshaft, Anklage, Prozess. Diesen Mittwoch verurteilte das Landgericht Stuttgart Patricia W. zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis – wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Die Geschichte der Liebesschwindlerin aus Schwaben ist einer dieser Kriminalfälle, bei denen man sich an die Stirn tippt und sagt: Das gibt’s doch gar nicht. So dumm kann doch niemand sein. Aber wie so oft im Leben: Wenn Gier auf Gier trifft, setzt der Verstand aus. Am Ende verlieren alle. Die einen ihre Freiheit, die anderen ein Vermögen.

 

Patricia W. wuchs in einer Sinti-Familie auf. Sie hat weder einen Schulabschluss noch einen Beruf, sie jobbte als Kassiererin, zuletzt lebte sie von Sozialhilfe. Irgendwann muss sich die verheiratete Frau gefragt haben, wie sie ihr Dasein etwas angenehmer gestalten könnte, ohne gleich eine Bank überfallen zu müssen. Die Antwort: Männer. Solvente Männer mit Hang zu Erotikabenteuern.

 

In einem Stuttgarter Restaurant stellte sich die Schönheit – schwarze Haare, sinnliche Lippen, große Oberweite – zur Schau. Es dauerte nicht lange, bis ein damals 74-Jähriger sie ansprach, der Unternehmer Erwin, rüstig, alleinstehend. Die beiden kamen sich schnell näher und hatten, man ahnt es, Sex. Er war begeistert von seiner Eroberung, die angeblich als Goldhändlerin arbeitete. Als sie ihn um ein kleines Darlehen bat und bis zu acht Prozent Zinsen versprach, ließ sich der Geschäftsmann nicht lumpen. Zwischen November 2010 und Anfang 2013 steckte er seiner Herzdame bei 17 Treffen insgesamt 501 000 Euro zu. Das Geld sah er nie wieder.

 

Nicht nur Erwin ging der Verführerin auf den Leim. Auch Rolf, damals an die 80 Jahre alt, erlag ihrem Charme. Ihm gegenüber hatte sich Patricia W. als Goldschmiedin mit Geschäft in Zürich vorgestellt, die gerade einen finanziellen Engpass überbrücken müsse. Selbstlos half Rolf seiner Göttin aus der Patsche – mit reichlich Bargeld sowie mehr als 20 Kilogramm Gold und Silber, Gesamtwert 510 000 Euro. Die Übergaben erfolgten unter anderem vor einem Bahnhof und an einer Tankstelle. Bei halbwegs seriöser Betrachtung hätten Erwin und Rolf erahnen können, welches Spiel ihre teure Geliebte trieb. Als sie den Fauxpas bemerkten, war es zu spät. Die Opfer hätten einen „Vermögensverlust großen Ausmaßes“ erlitten, wie es im Juristendeutsch so schön heißt. Man könnte auch sagen: Sie haben sich freiwillig einem Weib ausgeliefert, das sie nach allen Regel der Kunst abzockte.

 

Die Million jedenfalls ist futsch. Sie habe das ganze Geld „im Casino verspielt“, erklärte die Angeklagte vor Gericht. Tatsächlich fanden die Ermittler bei ihr keinen Cent der Beute. Ein Gutachter bescheinigte der Frau eine ausgeprägte Spielsucht. Rechtsanwalt Thomas Mende aus Esslingen ist mit dem Strafmaß für seine Mandantin „sehr zufrieden“. Es hätte schlimmer kommen können: Patricia W. gilt als Wiederholungstäterin. 2010 war sie zu knapp zwei Jahren Haft verurteilt worden. Sie hatte ältere Männer angeflirtet und finanziell ausgenutzt.

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WM-Torschütze Sparwasser: Sein Chef war Stasi-Spitzel

Zur Glanzzeit des 1. FC Magdeburg arbeitete der Clubchef als Informant des Geheimdienstes – und stellte missliebige Spieler kalt

 

Er ist einer der wenigen DDR-Fußballclubs, die schon vor der Wende international Furore machten. 1974 gewann der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger, und auch der berühmteste Torjäger der Ossis spielte für die Blau-Weißen: Jürgen Sparwasser schoss bei der WM 1974 den 1 : 0-Siegtreffer gegen den späteren Weltmeister BRD.

 

Im vereinten Deutschland versank der Verein in der Bedeutungslosigkeit. Schlagzeilen produzierte er nur, wenn es um Stasi-Verstrickungen ging. Der härteste, 2005 bekannt gewordene Fall: 1986 spritzte der damalige Teamarzt einen Torwart des Clubs absichtlich krank. Der Keeper galt als „unzuverlässig“ und sollte nicht mit zu einem Europapokalspiel nach Spanien fahren.

 

Nicht nur in der medizinischen Abteilung hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seine Helfer, sondern auch ganz oben, in der Vereinsspitze. Nach FOCUS-Recherchen arbeitete Ulrich Kammrad, von 1976 bis 1981 Clubchef des 1. FC Magdeburg, für die Stasi. Unter dem Decknamen „Volker Ernst“ lieferte er jahrelang Interna über Spieler und Mitarbeiter des Vereins. Den Akten zufolge verhinderte er, dass politisch unbequeme Kicker in den Westen reisen durften. In mindestens einem Fall sorgte er dafür, dass ein exzellenter Spieler wegen seiner angeblich DDRkritischen Haltung aus dem Club geworfen wurde.

 

Dem Fußball blieb der einstige Spitzel-Funktionär treu. Bis heute arbeitet der 76-Jährige an exponierter Stelle im Fußballverband Sachsen-Anhalt. Zudem ist er Ehrenmitglied des Magdeburger Traditionsvereins, der kürzlich in die dritte Liga aufstieg. Bei Nostalgie-Treffen mit Fans schwärmt Kammrad gern von der goldenen Ära in den 70ern, die er maßgeblich mitprägte. Seine Stasi-Vergangenheit blendet er dabei aus. Laut Akten unterschrieb der Diplomsportlehrer am 17. Mai 1976 eine Verpflichtungserklärung als Stasi-Informant. Konspirative Treffen mit seinen Führungsoffizieren fanden meist im Dienstzimmer des Clubchefs statt. Für seine Berichte erhielt er mehrfach Geldprämien.

 

Zu den harmloseren Themen, über die Kammrad berichtete, gehörte der Alkoholkonsum der Truppe. Nach einem Freundschaftskick gegen Eintracht Braunschweig habe sich jeder Spieler „zirka 5 Bier“ reingekippt, notierte der Schnüffler. Auf der Rückreise von einem Europapokalauftritt im französischen Lens seien zwei Spieler sturzbetrunken gewesen und hätten sich „nicht mehr unter Kontrolle“ gehabt. Einer habe sich sogar auf der Toilette des Flughafens erbrochen. Aufmerksam beobachtete Kammrad das Einkaufsverhalten der Sportler. Nach dem 3 : 1-Sieg bei Schalke 04 (damals mit Topspielern wie Rolf Rüssmann, Rüdiger Abramczik und Klaus Fischer) im Herbst 1977 hätten sich die Magdeburger Balltreter um ihren Superstar Jürgen Sparwasser mit „Schallplatten, Tonbandkassetten und Textilien“ eingedeckt. Auch Eheprobleme und Westkontakte von Spielern meldete der Funktionär dem Geheimdienst.

 

Dass seine Berichte zum Teil folgenschwere Konsequenzen hatten, zeigt ein Aktenvermerk vom 22. September 1976. An diesem Tag übermittelten ihm zwei MfS-Leute das Gerücht, ein Spieler des Vereins plane Republikflucht. Obwohl es dafür nicht den geringsten Beweis gab, griff der Clubchef hart durch. Er schlug vor, dass der Sportler „aus dem 1. FCM ausdelegiert“ werde, was auch geschah. Dass hinter dem Rauswurf ein Stasi-Komplott steckte, sollte niemand erfahren. Im Protokoll wird gewarnt: „Keinerlei Hinweise auf das MfS.“

 

Der Name des Opfers ist in den Akten geschwärzt, doch nach FOCUS-Informationen handelt es sich um Bodo Sommer, heute 62. Der Verteidiger bestritt in den 70er-Jahren mehr als 50 Pflichtspiele für den Club und wurde dreimal DDR-Meister. Zu Europapokal-Vergleichen im Westen durfte Sommer jedoch nicht mitfahren, im Alter von 24 Jahren musste er den Club verlassen. Er wurde in die Nationale Volksarmee verbannt und verkümmerte später in der zweiten Liga – für einen ambitionierten DDR-Leistungssportler die Höchststrafe.

 

Nach dem Mauerfall hat Sommer, der als Servicetechniker für Hausgeräte arbeitet, seine mehrbändige Stasi-Akte gelesen. Dabei stieß er auf etliche Verräter unter Mitspielern und Funktionären, auch auf Vereinsboss Kammrad. „Das Gerücht, dass ich in den Westen wollte, hatte die Stasi erfunden“, sagt er zu FOCUS. „Vom damaligen Clubvorsitzenden bin ich menschlich sehr enttäuscht.“

 

Für Ulrich Kammrad war das düstere Kapitel seiner IM-Tätigkeit eigentlich abgehakt. Vor wenigen Tagen konfrontierte FOCUS ihn mit Inhalten aus seiner Akte. Nach anfänglichem Leugnen („Ich hatte zur Stasi überhaupt keinen Kontakt“) räumte er die Zusammenarbeit ein: „Na gut, da brauche ich jetzt nicht rumzustreiten.“ Ihm sei es darum gegangen, seinen Club vor dem Klassenfeind zu schützen. „Ich habe dort meine Aufgaben erfüllt. Ich habe dafür gesorgt, dass die DDR sportlich anerkannt wurde. Was soll ich daran heute bereuen?“

 

Die Stasi zeigte sich mit den Leistungen ihres Top-Informanten zufrieden: „Seine Einsatzbereitschaft war ohne Tadel.“ Kritisch merkten die Geheimdienstler an, Kammrad sei „unehrlich“ und versuche, sich „materielle Vorteile zu verschaffen“. Bei Funktionären westlicher Mannschaften habe er sich „geradezu angebiedert“.

 

Seine Zuträgerdienste für das MfS könnten Kammrad noch in Bedrängnis bringen, denn bis heute mischt er als ehrenamtlicher Funktionär im Fußballverband Sachsen-Anhalt mit. Kammrad sitzt im Sportgericht. Dort wacht er über das Fairplay, ahndet Regelverstöße, verhängt Strafen.

 

Beim Verband gibt man sich von den FOCUS-Recherchen überrascht. Sprecher Volkmar Laube: „Der Fall ist uns bislang nicht bekannt.“ Man werde zunächst das Gespräch mit Kammrad suchen. „Sollte sich der Verdacht erhärten, würden wir ihn bitten, die Konsequenzen zu ziehen.“

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„Da bin ich gnadenlos“

Berlin gilt als Hauptstadt der Jugendgewalt. Doch das negative Image habe mit der Realität wenig zu tun, sagt Jugendrichterin Corinna Sassenroth – und liefert erstaunliche Beweise

 

Eine zierliche Frau, dunkelblond, lockere Bob-Frisur, betritt Saal B 145 im Amtsgericht Tiergarten. Sie trägt enge Jeans und Schuhe mit hohen Absätzen. Man würde sie auf Anfang 40 schätzen, dabei hat sie vergangenes Jahr ihren 50. Geburtstag gefeiert. Freundlich begrüßt Jugendrichterin Corinna Sassenroth den Angeklagten, einen bulligen Brillenträger mit Kapuzenjacke und hippen Turnschuhen. Er hat bei Ebay Modeschmuck verkauft und Kunden um 148 Euro geprellt. Eigentlich Peanuts. Aber der Jugendliche ist sechsmal vorbestraft, auch wegen Betrugs. Stets war er mit Verwarnungen und kleinen Geldstrafen davongekommen. Und diesmal? „Im Namen des Volkes verurteile ich Sie zu neun Monaten Haft“, ruft die Richterin in den Saal. Die Strafe werde für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. „Noch ein krummes Ding, und Sie gehen in den Knast“, warnt Sassenroth. Der Täter, von der Härte des Urteils kalt erwischt, nickt schweigend. Es scheint, als habe er verstanden, was die Frau in der Robe von ihm erwartet: dass er sich nie wieder bei ihr blicken lässt. Eine große Chance. Seine letzte.

 

Nach der Verhandlung sitzt die Jugendrichterin, die schnell eine selbst gedrehte Zigarette geraucht hat („Mein einziges Laster“), in ihrem Büro mit der Nummer E 202. Abgeschabte Möbel, kein Fernseher, ein vertrockneter Elefantenfuß auf dem Fensterbrett. Neben dem Computer stapeln sich Ermittlungsakten. Es geht um Diebstahl und Schwarzfahren, Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Sachbeschädigung, Drogenhandel. „Manche Straftaten sind wirklich krass“, meint Sassenroth, die aus der Nähe von Bremen stammt und eine von insgesamt 30 Jugendrichterinnen und -richtern in Berlin ist.

 

In der Hauptstadt leben fast 1000 junge, zum Teil hochgefährliche Intensiv- und Mehrfachtäter. Türkisch-arabische Banden beherrschen halbe Stadtviertel. In Polizeiberichten ist ständig von Raubtaten die Rede, von Messerstechereien und Prügelattacken. Angesichts solcher Zustände müsste die Jugendrichterin verzweifeln. Doch Sassenroth ist alles andere als eine verbitterte, desillusionierte Strafverfolgerin. Sie empfindet sich nicht als Putzhilfe, die nur noch die Scherben aufkehren muss, die andere hinterlassen haben: gleichgültige Eltern, hilflose Lehrer, überforderte Ämter, der schwache Staat. Vielmehr glaubt sie daran, junge Straftäter wieder auf den richtigen Weg bringen zu können. „Das klappt öfter, als viele denken.“ Sassenroth erzählt von üblen Schlägern, die sie statt ins Gefängnis in Erziehungscamps schickte und die danach nie wieder etwas mit der Polizei zu tun hatten. Und weil sie gerade bei den positiven Aspekten ihrer Arbeit ist, zieht sie einen Papierbogen aus der Schublade, die interne Bilanz der Berliner Justizverwaltung für die Jahre 2008 bis 2013.

 

In dieser Zeit sank die Zahl der Jugendstrafverfahren beim Amtsgericht Tiergarten, das für ganz Berlin zuständig ist, um 45 Prozent – von 17 397 auf zuletzt 9613. Das Landgericht Berlin, wo die schweren Jugenddelikte verhandelt werden, verzeichnete im selben Zeitraum einen Rückgang der Fälle von 457 auf 310. Die Fakten klingen ermutigend. Aber wie lässt sich die Entwicklung erklären? Sassenroth sagt, die Berliner Justiz reagiere heute sehr viel schneller auf Jugendkriminalität. Vom Eingang eines Verfahrens bei Gericht bis zum Urteil vergehen durchschnittlich 2,6 Monate. Vor ein paar Jahren waren es 3,8 Monate. „Je schneller der Staat eine Straftat ahndet“, weiß die Expertin, „desto größer ist die erzieherische Wirkung.“ Außerdem würden Polizei, Jugendämter, Sozialbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichte jetzt besser zusammenarbeiten. Oft ließen sich Jugendliche von einer kriminellen Karriere abbringen, bevor sie richtig begonnen hat. Seit ein paar Jahren bietet die Berliner Justiz eine Art Rechtskunde-Unterricht an.

 

Mehr als 5000 Schüler haben an dem Präventionsprojekt schon teilgenommen – und dabei hautnah erfahren, welche Folgen Gesetzesbrüche haben können. In den Kursen befassen sich die Mädchen und Jungen intensiv mit alterstypischen Straftaten, etwa dem Raub eines Smartphones auf dem Pausenhof. Dabei stellen die Schüler das Delikt spielerisch nach. Einer übernimmt den Part des Täters, andere mimen Opfer und Zeugen. Am Ende kommt es zu einem Strafprozess im Amtsgericht mit echten Staatsanwälten und echten Richtern.

 

Manchmal steht auch Corinna Sassenroth vor einer Klasse, standesgemäß in Robe, und führt eine Verhandlung. Dabei verströmt sie nicht die Aura einer moralinsauren Gesetzeshüterin, die mit gestrenger Miene das Böse bekämpft. Eher wirkt sie wie eine coole Lehrerin, die zufällig etwas von Paragrafen versteht. Das muss kein Nachteil sein in ihrem Job. Die Mutter von zwei Kindern, 13 und 16 Jahre alt, trifft genau den Ton, den Jugendliche verstehen, ohne dass sie sich bei ihnen anbiedert. Warum sollte sie ihre Klientel mit ellenlangen Zitaten aus Ermittlungsakten langweilen? Manchmal reicht der Hinweis „Seite 37, trallala, trallala“.

 

So locker sie oft daherkommt, einen Fehler sollte man bei Sassenroth nie machen: sie unterschätzen. Wenn Jugendliche in der S-Bahn pöbeln oder Kinder vom Spielplatz vertreiben, geht sie dazwischen, oft als Einzige. Mit ihrer kecken Art verschafft sich die 1,58 Meter große Frau bei Tätern Respekt – auf der Straße und im Gericht. Sassenroth liebt ihren Beruf. Und sie nimmt ihn ernst. Sie sagt Sätze wie: „Ich will jeden Angeklagten fair behandeln.“ Am Anfang jeder Verhandlung versetzt sich die Richterin in die Welt des Beschuldigten. Sie fragt, welche Probleme es zu Hause gebe, wie viel Taschengeld er bekomme, wie es in der Schule laufe, ob er Drogen nehme.

 

Dass sich jemand für sie interessiert, ist für viele Jugendliche eine neue Erfahrung – und verrät einiges über die Verhältnisse, in denen sie aufwachsen. Manche Eltern betteln Sassenroth an, sie möge den Sohn rigoros bestrafen: „Greifen Sie mal richtig durch!“

 

Solche Forderungen hört man immer wieder. Eine frühere Kollegin Sassenroths, die Jugendrichterin Kirsten Heisig, hatte damit vor Jahren bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Bis zu ihrem Suizid 2010 beklagte sie in Interviews und Talkshows, der Staat müsse mehr Härte zeigen, sonst werde er „den Kampf gegen die Jugendgewalt verlieren“.

 

Auch Sassenroth plädiert dafür, konsequent gegen junge Täter vorzugehen. Verbrechern, die keinerlei Reue zeigen und alle staatlichen Warnungen missachten, müsse man die Grenzen aufzeigen. „Da bin ich gnadenlos.“ Zugleich mahnt sie: „Wenn ich jeden gleich wegsperren würde, wäre keinem geholfen – weder dem Jugendlichen noch der Gesellschaft.“ Ihre Aufgabe sei es, Jugendliche zu erziehen. „Nur draufhauen ist zu wenig.“ Der Ebay-Betrüger, den sie heute verurteilt hat, muss sich jetzt zusammenreißen. „Ich hoffe, dass er nicht wieder straffällig wird“, sagt Sassenroth. Käme es so, hätte sie alles richtig gemacht.

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Die kaputte Welt der Terror-Braut

In dieser Woche beginnt der Prozess gegen BEATE ZSCHÄPE. Als Mitglied einer rechtsextremen Killerbande soll sie an der Ermordung von zehn Menschen beteiligt gewesen sein. Vor Gericht stehen auch der Staat und seine Sicherheitsbehörden, die bei der Jagd nach dem Terrorkommando kläglich versagt haben

 

Bewaffnete Elite-Polizisten werden sie aus der Gefängniszelle holen und in einen gepanzerten Transporter setzen. Kurz vor zehn Uhr wird sie, begleitet von mehreren Justizbeamten und ihren drei Verteidigern, den Gerichtssaal betreten. Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen beginnt am Mittwoch in München der Prozess gegen die einst vielleicht gefährlichste Frau Deutschlands: Beate Zschäpe, 38 Jahre alt, Rechtsextremistin, Geliebte und Komplizin zweier Serienkiller, Mitglied der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).

 

Millionen Menschen kennen Zschäpes Gesicht von Fotos. Im Schwurgerichtssaal A 101 werden viele sie zum ersten Mal „live“ erleben, ihr in die Augen sehen, ihre Stimme hören, jede noch so kleine Geste verfolgen. Das öffentliche Interesse an dem Verfahren ist riesig. Die Zahl der Opfer, die Kaltblütigkeit der Täter, das Versagen der Ermittlungsbehörden – die Richter des Oberlandesgerichts (OLG) München haben ein in vielerlei Hinsicht monströses Verbrechen aufzuklären. Gemessen an der weltweiten Aufmerksamkeit, steht ein „Jahrhundert-Prozess“ bevor. 77 Opfer-Angehörige wollen das Geschehen im Gericht mitverfolgen. Ihr größter Wunsch: endlich die Wahrheit erfahren über Zschäpe und Konsorten, über die Gründe für ihren Hass, die Gewalt, den gnadenlosen Terror.

 

Die ersten Schüsse fielen am 9. September 2000 in Nürnberg. Sie trafen den türkischen Blumenhändler Enver Simsek. Die Mörder entkamen – und liquidierten in den folgenden Jahren acht weitere Einwanderer aus der Türkei und Griechenland. Einen fremdenfeindlichen Hintergrund schlossen die Ermittler stets aus. Stur suchten sie die Todesschützen im Mafiamilieu und verdächtigten sogar die Familien der Opfer.

 

Erst 2011 kamen die Fahnder den mutmaßlichen Mördern auf die Spur: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Das Neonazi-Trio war 1998 aus Jena geflüchtet und hatte sich fast 14 Jahre in Sachsen versteckt. Dort formierten sich die Rechtsextremisten zur Terrorzelle NSU. Die Bande soll laut Anklage auch für die Hinrichtung einer Polizistin 2007 in Heilbronn und andere Verbrechen verantwortlich sein. Mundlos und Böhnhardt können nicht mehr bestraft werden. Nach einem verpatzten Bankraub – Streifenbeamte hatten das Fluchtauto der beiden aufgespürt – erschossen sich die Männer am 4. November 2011 in Eisenach. Vier Tage später stellte sich Zschäpe der Polizei. Nicht nur die sogenannte Terror-Braut muss sich vor Gericht verantworten. Auf der Anklagebank sitzen auch vier mutmaßliche NSU-Helfer und – zumindest indirekt – der Staat mit seinen Sicherheitsbehörden. Deutschland erlebte die schlimmste Verbrechensserie politisch motivierter Täter seit den Anschlägen der Roten Armee Fraktion (RAF). Doch weder Polizei noch Verfassungsschutz waren in der Lage, die Neonazi-Killer zu erkennen. Geschweige denn, sie zu stoppen. Nach dem Auffliegen der Terrorgruppe setzte sich das Debakel fort. Einige Beamte versuchten, Fahndungspannen zu vertuschen, andere schredderten hochbrisante Akten.

 

Beate Zschäpe hat in den letzten Monaten viele Briefe geschrieben. An ihre Familie, an die Gefängnisleitung. „Mit freundlichen Grüßen“, „Hochachtungsvoll“, „Im Voraus Danke!“ – so nett enden die meisten Schreiben. Am 18. Mai 2012 beantragte sie die „Aushändigung des Notebooks“, das ihr die Bundesanwaltschaft zur Verfügung stellte. Fortan bereitete sie sich auf den Prozess vor. Zschäpe studierte die komplette Ermittlungsakte, 1000 eingescannte Leitz-Ordner. Vergangene Woche durfte sie erstmals die Bände 588 bis 595 einsehen – streng geheime „Verschlussakten“ des Verfassungsschutzes. Zschäpe schweigt zu den Vorwürfen der Anklage, wohl auch im Gericht. Es droht ein mehrjähriger Indizienprozess, ein kompliziertes Verfahren, über das schon im Vorfeld heftig diskutiert wurde.

 

Das OLG garantierte zunächst nur 50 Journalisten einen Sitzplatz. Medien aus der Türkei, woher die meisten NSU-Opfer stammten, erhielten keine Akkreditierung. Das Bundesverfassungsgericht rügte vergangenen Freitag die Platzvergabe – und wies die Münchner Richter an, mindestens drei zusätzliche Plätze an ausländische Medien zu vergeben. Vermutlich erhalten nun drei bis vier türkische und griechische Journalisten die Gelegenheit, aus erster Hand über den Terrorprozess zu berichten.

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Richter Götzl, beenden Sie den NSU-Prozess!

Ein Zwischenruf von Göran Schattauer

 

200. Verhandlungstag gegen die Terrorgruppe NSU: Das Gericht will brutalstmöglich aufklären – und verliert dabei das wahre Ziel aus den Augen

 

Zehn Morde, zwei Bombenanschläge, 15 Banküberfälle – die Vorwürfe gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wiegen schwer. Seit Mai 2013 steht mit Beate Zschäpe die einzige Überlebende der rechtsextremen Terrorgruppe vor dem Oberlandesgericht München und mit ihr vier mutmaßliche Helfer. Nächste Woche findet der 200. Verhandlungstag statt. Bald geht der Prozess, der die Steuerzahler bisher 30 Millionen Euro kostete, ins dritte Jahr. Schon jetzt dauert die juristische Aufarbeitung der NSU-Verbrechen länger als der Düsseldorfer Al-Qaida-Prozess (163 Tage), der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (183) oder der Stammheimer RAF-Prozess (192). Am Ende wird er, was den Aufwand angeht, sogar den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher von 1945/46 übertreffen, für den das Gericht 218 Tage brauchte.

 

Aber muss das wirklich sein? Meine Antwort: nein!

 

Es wird höchste Zeit, das NSU-Verfahren zu beenden. Nach akribischer Prüfung Zigtausender Dokumente, der Befragung von mehr als 500 Zeugen und der Anhörung von fast 40 Gutachtern sollte sich das Gericht über Schuld oder Unschuld von Zschäpe und Konsorten im Klaren sein und endlich ein Urteil fällen. Ein Urteil, auf das viele Menschen im In- und Ausland warten, vor allem die Verletzten und Hinterbliebenen. Doch sie werden sich gedulden müssen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wirkt wie ein Marathonläufer, der das Ziel längst passiert hat, aber immer weiterrennt, weiter und weiter. Die Frage ist: Wohin? Und: Wem nützt das? Am Ende, so scheint es, will Götzl auch die allerletzte Frage gestellt, das kleinste Detail beleuchtet, den hinterrangigsten Zeugen befragt haben. Aber das Gericht darf sich nicht von dem Gedanken leiten lassen, frühere Fehler staatlicher Institutionen ausbügeln zu wollen, indem es eine Art Übergründlichkeit und Übervorsicht an den Tag legt. Selbstverständlich wollen (und müssen) die Richter dem Vorwurf entgehen, oberflächlich oder gar einseitig zu agieren, allein um keine Revisionsgründe zu liefern.

 

Und doch liegt es nicht in der Verantwortung des Gerichts, jede Bekanntschaft des NSU zu enttarnen und alle Pannen bei der Suche nach dem Trio aufzuklären. Aufgabe des Strafprozesses ist es vielmehr festzustellen, ob sich jemand eines Verbrechens schuldig gemacht hat oder nicht. Dafür müssen Ermittler Beweise oder Indizien beibringen, das Gericht hat sie zu würdigen und das Strafmaß festzustellen. Was in München passiert, sprengt den Rahmen. Der Prozess hat sich zum juristischen Mammut-Spektakel entwickelt, überfrachtet mit Erwartungen, reich an Nebenschauplätzen. Je länger das Verfahren dauert, desto obskurer und bedeutungsärmer werden die Darsteller. Letztens sagte eine Ex-Nach-barin aus, Zschäpe habe in Zwickau heimlich „Döner gemampft“. Auch das noch!

 

Der NSU konnte jahrelang rauben, morden, Bomben legen. Niemand hielt die Rechtsterroristen auf. Im Sog dieses Skandals haben einige Verantwortliche bei Polizei und Verfassungsschutz ihren Job verloren – angesichts des Fahndungsfiaskos und nachträglicher Vertuschungsaktionen viel zu wenige. Was dem bis auf die Knochen blamierten Staat blieb, war das Versprechen, die Morde aufzuklären und „alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“ (Kanzlerin Merkel). Aufklärung und Bestrafung, darum also geht es. Für die Aufklärung haben Bund und Länder Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Vorbildlich analysieren sie das Versagen der Sicherheitsbehörden und dröseln das Netzwerk der NSU-Unterstützer auf. Die strafrechtliche Beurteilung obliegt dem Gericht. Manfred Götzl und seine Kollegen sollten sich auf den Kern ihrer Aufgabe konzentrieren und endlich die Frage beantworten: Ist Beate Zschäpe eine Mörderin oder nicht?

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»Opfer? Welche Opfer?«

Als Jugendlicher wurde er in die Türkei abgeschoben. Jetzt will der einstmals berüchtigte Serientäter »Mehmet« zurück nach Deutschland. Er gibt sich geläutert – doch viele bezweifeln, dass er aus seiner kriminellen Vergangenheit gelernt hat

 

Er kam gern zum Training. Obwohl der Ascheplatz steinhart war und er nicht zu den besten Fußballern gehörte. Einmal versprang ihm der Ball und rollte einem Mitspieler vor die Füße. Der Junge kickte ihn nicht zurück. Also ging er hin und hämmerte dem Kleinen die Faust in Gesicht. „Arschloch“, brüllte der Zehnjährige sein blutendes Opfer an. So war er, der „Mehmet“, Sohn türkischer Einwanderer, 1984 in München geboren, aufgewachsen in Neuperlach, einem Ghetto am Rand der Stadt. Es war SEIN Ghetto. Regeln und Gesetze mochten für andere gelten. Für ihn nicht. Er raubte Menschen aus, schlug, trat und verhöhnte sie. Schon bald nannten ihn die Reporter „Terrorkind“. Damals, Ende der 90er-Jahre, war „Mehmet“ gerade mal 13.

 

Jetzt, im Alter von 29, meldet sich der einstmals berüchtigte Serientäter zurück. Am 8. Oktober erscheint sein autobiografisches Buch „Sie nannten mich Mehmet“. Auf 272 Seiten erzählt „Mehmet“, der in Wirklichkeit Muhlis Ari heißt, seine Lebensgeschichte. Ganz am Anfang schreibt er, viele Menschen werden ihn nach der Lektüre „noch mehr hassen, als sie es ohnehin schon tun“. Die Sorge des Autors ist berechtigt. Schon deshalb, weil er erklärt, er wolle nach Deutschland zurück, was nicht nur Sicherheitspolitiker als Drohung empfinden und ablehnen. Es gibt noch mehr Gründe, sich aufzuregen. Denn der einst notorische Gewaltkriminelle Muhlis Ari zeigt keinerlei Reue. Er sei doch noch ein Kind gewesen, „das oftmals nicht wusste, was es tat“, rechtfertigt er seine Verbrechen. Immer wieder sei er „den falschen Leuten in die Hände geraten“. Nach seinem Verständnis war er also kein Täter, sondern Opfer. Opfer von Polizei, Justiz und Politik. „Ich bin auf’s Übelste verfolgt worden“, behauptet er.

 

Verfolgt wurde der Türkenjunge tatsächlich – als Krimineller, der den Rechtsstaat auf beispiellose Weise herausforderte. Bis zum Alter von 13 Jahren verübte er 61 schwere Straftaten, ohne dass er sich dafür verantworten musste. Er war ein Kind. Und in Deutschland kommen Kinder nicht ins Gefängnis. Um ihn und seine Familie zu schützen, gaben die Behörden ihm einen Alias-Namen: „Mehmet“. Seither steht das Pseudonym „Mehmet“ für einen der bundesweit krassesten Fälle von Jugendkriminalität. Zugleich steht es für den – damals wie heute – schwierigen Versuch, Ausländer zu integrieren, die sich nicht an Recht und Gesetz halten wollen.

 

1998 lösten die bayerischen Behörden das Problem „Mehmet“ auf rigorose Weise: Nach seiner 62. Straftat, einem Raub mit gefährlicher Körperverletzung, schoben sie Muhlis Ari in die Türkei ab, mit 14, ohne Eltern, in einer Lufthansa-Maschine. Irgendwie glaubte (und hoffte) damals jeder, „Mehmet“ sei ein für allemal weg. Und mit ihm die ganzen Probleme, die er hier gemacht hatte. Nun ist er wieder da – jedenfalls als Autor, der seine verkorkste Lebensgeschichte verkauft. Vielen dürfte das zuwider sein. Besonders jenen, die er früher misshandelt hat. An einer Stelle im Buch schildert er das Gespräch mit einer Journalistin. Sie wollte wissen, wie er zu seinen Opfern stehe. „Welche Opfer denn?“, fragte er zurück. 25 Seiten später wird klar, wen die Leser für das wahre Opfer halten sollen: „Mehmet“.

 

Kurz nach seiner Abschiebung geriet er in den Verdacht, einen Computer gestohlen zu haben. Um ein Geständnis zu erpressen, hätten ihn Polizisten in ein Kellerverlies geschleppt und gefoltert, so „Mehmet“. Angeblich wurde er mit Wasserstrahlen traktiert und mit Stromstößen gepeinigt. Es fällt schwer, „Mehmet“ zu glauben. Er hat Unterschriften gefälscht und eine Richterin belogen. Er trickste, täuschte und blendete, und nicht selten kam er damit durch. 2001 versicherte er einem Gerichtsgutachter, er habe der Gewalt abgeschworen und sei ein friedfertiger, lieber Mensch geworden. Derselbe Psychiater, der ihn kurz vor der Abschiebung 1998 als hoffnungslosen Fall bezeichnet hatte, stufte ihn daraufhin als harmlos ein. Für die nahe Zukunft bestehe „kaum die Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen“, so der Experte. Auf Grund der positiven Beurteilung erklärte das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig, 2002 durfte „Mehmet“ zurück nach Deutschland.

 

Drei Jahre sollte es dauern, bis der junge Türke rückfällig wurde. Er schlug seine Mutter nieder, weil sie ihm kein Geld für Drogen geben wollte. „Mehmet“ wurde zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, außerdem zu einem Anti-Aggressions-Training und 100 Stunden Sozialarbeit. Eine allerletzte Chance. Er nutzte sie nicht. „Mehmet“ fälschte die Liste, auf der seine geleisteten Sozialstunden aufgeführt waren. Eine Richterin bemerkte den Betrug und machte dem mittlerweile 21-Jährigen klar, dass sie seine Bewährung widerrufen werde. Noch am selben Tag packte „Mehmet“ seine Koffer und ließ sich von einem Kumpel nach Amsterdam fahren, zum Flughafen Schiphol. Ein paar Stunden später landete er in Istanbul. Wie 1998. Doch diesmal hatte ihn niemand gezwungen. Er war aus Angst vor dem Gefängnis geflohen. Die 2005 verhängte Strafe verjährt am 27. Dezember 2015 und darf später nicht mehr vollstreckt werden. Sollte „Mehmet“ vorher nach Deutschland kommen, würde er sofort verhaftet und in eine Justizvollzugsanstalt gebracht, um dort seine Haft zu verbüßen. Danach würde er in die Türkei abgeschoben.

 

Doch selbst wenn der Täter die Verjährungsfrist abwartet – in Deutschland würde er keinen Fuß auf den Boden bekommen. In einem bis heute gültigen Bescheid der Stadt München von 2006 heißt es: „Sie werden aus der Bundesrepublik ausgewiesen. Die Wiedereinreise ist untersagt.“ Gegen die Verbannung kämpft „Mehmet“ zusammen mit seinem Verteidiger Burkhard Benecken aus Marl. Sie stellten ein Gnadengesuch bei der bayerischen Justiz und beantragten, die Ausweisung zeitlich zu befristen. Sogar den Bundespräsidenten schalteten sie ein. Rechtsanwalt Benecken zu FOCUS: “,Mehmets’ Heimat ist und bleibt München. Er möchte zumindest zeitweise wieder dort leben.“

 

Ein Ansinnen, das nicht jedem gefällt. Ginge es nach Hartmut Schreiner, bliebe „Mehmet“ für immer in der Türkei. Der 76-Jährige Ex-Rektor hatte den damals 14-Jährigen aus der Hauptschule geworfen. „Der war ein Psychopath, hat ohne Grund zugeschlagen. Die Schüler hatten riesige Angst vor ihm.“ Eine Rückkehr des einstigen Brutalos sieht Schreiner skeptisch. Vermutlich würde „Mehmet“ wieder in die alten Kreise rutschen und kriminell werden. „Die Gefahr, dass er erneut zuschlägt, ist groß.“ Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) schwant Böses, weshalb er „Mehmet“ zur unerwünschten Person erklärt: „Er hat wiederholt bewiesen, dass er keine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft ist“, so Herrmann zu FOCUS. Der Türke habe anderen Menschen schweres Leid zugefügt und sei immer wieder rückfällig geworden. „Auf solche Leute verzichten wir gern in unserem Land.“ Und was sagt Herrmanns Vorgänger Günther Beckstein? Bayerns einstiger Polizeiboss hatte „Mehmets“ Ausweisung maßgeblich mitbetrieben. Noch heute verteidigt er sein Vorgehen. Man habe damals große Probleme mit jungen Intensivtätern aus dem Integrationsmilieu gehabt. „Deshalb ging es auch darum, ein Exempel zu statuieren.“

 

In seinem Buch nennt „Mehmet“ Becksteins Verhalten „widerlich und krank“. Der Politiker habe „das Leben eines 14 Jahre alten Kindes absichtlich zerstört, um sich zu profilieren“. Andere Sätze vermisst man. Einen wie: „Ich bitte meine Opfer um Verzeihung.“

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Der Justizminister, für dessen Sohn offenbar andere Gesetze gelten

Schwere Vorwürfe gegen einen Spitzenpolitiker der rot-rot-grünen Regierung in Thüringen: Dieter Lauinger soll erwirkt haben, dass sein Sohn von einer Pflichtprüfung befreit wird

 

Dieter Lauinger, 53, ist ein guter Mensch. Klimaschutz, das Wohl von Flüchtlingen, frisches Obst und Gemüse an Schulen, solche Dinge liegen dem Mann am Herzen. Sein persönlicher Beitrag zur Weltrettung besteht darin, dass er dienstlich einen Hybrid-Mercedes fährt, dessen CO-Ausstoß bei nur “119 Gramm je Kilometer“ liegt, wie er stolz berichtet. Seinen Dienst versieht Lauinger, der aus Baden-Württemberg stammt und den Grünen angehört, in Thüringen. Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) holte den ehemaligen Richter Ende 2014 in seine rot-rot-grüne Landesregierung – als Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz. Anderthalb Jahre agierte das linke Bündnis, das im Parlament über nur eine Stimme Mehrheit verfügt, weitgehend pannen- und affärenfrei. Nun drohen erste Schatten auf die Regierungstruppe zu fallen. Verantwortlich dafür: der grüne Justizminister.

 

Nach FOCUS-Recherchen hat Dieter Lauinger sein politisches Spitzenamt offenbar für private Zwecke missbraucht. Wegen einer schulischen Angelegenheit seines Sohnes soll Lauinger sowohl im Thüringer Bildungsministerium als auch in der Staatskanzlei interveniert haben. Am Ende konnte sich der Grünen-Politiker gegen den Widerstand der zuständigen Fachabteilung durchsetzen und für seinen Sohn die gewünschte Lösung herbeiführen: Ihm wurde die „Besondere Leistungsfeststellung“ erlassen – entgegen den gesetzlichen Bestimmungen.

 

Bei der „Besonderen Leistungsfeststellung“ handelt es sich um eine Prüfung, die Gymnasiasten in Thüringen, Hessen und Sachsen am Ende der 10. Klasse in mehreren Kernfächern ablegen müssen. Wer die Tests erfolgreich absolviert hat und in die 11. Klasse versetzt wird, erwirbt automatisch einen Abschluss, der dem der Realschule entspricht. Die Regelung wurde in Thüringen als Reaktion auf den Amoklauf von Erfurt 2002 eingeführt. Der Attentäter Robert S. war kurz vor dem Abitur vom Gymnasium geflogen und stand ohne Abschluss da, was ihn maßgeblich zu der Bluttat an seiner alten Schule trieb.

 

Laut Thüringer Schulgesetz ist die Prüfung für alle Zehntklässler verpflichtend. Eine Ausnahme gilt lediglich für Gymnasiasten, die einen „ganzjährigen Auslandsaufenthalt“ absolviert haben. So steht es in einer 2009 vom Thüringer Kultusministerium beschlossenen Verwaltungsvorschrift.

 

Dem Justizminister und seiner Frau waren die im Internet leicht zu findenden Details offenbar nicht geläufig, als sie sich im Herbst 2015 an die Klassenlehrerin ihres Sohnes in der Erfurter Edith-Stein-Schule wandten. Gemeinsam erörterte man den Wunsch von Lauinger junior, einige Monate im Ausland zu verbringen. Wenig später teilte die Schulleitung den Eltern nach FOCUS-Informationen schriftlich mit, dass ihr Sohn die Reise antreten könne und keine „Besondere Leistungsfeststellung“ schreiben müsse. Das Schulamt habe diesem Vorgehen „zugestimmt“.

 

Ende April 2016, kurz vor Beginn der Prüfungsphase, brach der Ministersohn für knapp vier Monate nach Neuseeland auf und besuchte dort eine High School. In dieser Zeit tat sich im heimatlichen Thüringen ein für Familie Lauinger unerwartetes Problem auf: Die Schulaufsichtsabteilung des Bildungsministeriums, die von dem Fall Wind bekommen hatte, erklärte das Schreiben der Edith-Stein-Schule, wonach eine Prüfung entbehrlich sei, für fehlerhaft und damit ungültig. Das Gremium befand: Schüler Lauinger wird nur in die 11. Klasse versetzt, wenn er den Wissenstest nachholt. In gleicher Weise beschieden die Experten den Antrag eines Schülers, der längere Zeit krank war und aus diesem Grund um eine Befreiung von der Klausur gebeten hatte. Angesichts der unzweideutigen Ansage schrieb der erkrankte Zehntklässler die Prüfung in den Sommerferien nach – im Gegensatz zum Sprössling des Justizministers. Vater Lauinger wollte den Bescheid der Schulaufsicht partout nicht hinnehmen – und intervenierte auf höchster politischer Ebene. Das geht aus Zeugenaussagen und Dokumenten hervor, die FOCUS vorliegen. Demnach soll sich Lauinger telefonisch beim zuständigen Referat im Bildungsministerium beschwert haben. Dabei drohte er angeblich damit, das Land Thüringen zu verklagen, und berief sich auf die nach seiner Ansicht „verbindliche“ Erstauskunft der Edith-Stein-Schule. Dass die übergeordnete Behörde die Sachlage ganz anders bewertete, wurmte den Minister offenbar so sehr, dass er sogar die Thüringer Staatskanzlei eingeschaltet haben soll. Schließlich landete die heikle Personalie auf dem Tisch von Bildungsministerin Birgit Klaubert (Die Linke).

 

Die hausinternen Fachleute erläuterten der Ministerin bei mehreren Gelegenheiten die Rechtslage und wiesen darauf hin, dass es aus ihrer Sicht keinen Ermessensspielraum gebe: Laut Gesetz müsse die Prüfung absolviert werden. Klaubert setzte sich jedoch über die Bedenken ihrer Mitarbeiter hinweg und entschied, dass der Promi-Sohn ohne „Besondere Leistungsfeststellung“ in die nächste Klassenstufe versetzt wird. Interessanterweise stützte sich Klaubert bei ihrer Weisung auf eine Einschätzung der Staatskanzlei. Die dortigen Juristen stuften den Brief der Schule als „rechtsgültigen Verwaltungsakt“ ein. Für den Bescheid gelte „Vertrauensschutz“. Die Juristen des Bildungsministeriums sehen das komplett anders – und vermerkten dies auch in den Akten.

 

Justizminister Lauinger ist sich keiner Schuld bewusst und tut so, als hätten sein politisches Spitzenamt und der Einsatz für seinen Sohn nicht das Geringste miteinander zu tun. Ganz bewusst beantwortete er einen FOCUS-Fragenkatalog nicht offiziell über die Pressestelle des Ministeriums. Stattdessen nutzte er eine private E-Mail-Adresse und schrieb gemeinsam mit seiner Frau. Die Eltern betonen, dass es sich bei den schulischen Angelegenheiten ihres Sohnes um „eine rein private Angelegenheit“ handele, an der aus ihrer Sicht „kein öffentliches Interesse“ bestehe. Immerhin bestätigt Lauinger, dass er sich „an das zuständige Bildungsministerium gewandt“ habe, um die Hintergründe der für seinen Sohn negativen Entscheidung in Erfahrung zu bringen – allerdings „ausschließlich als Vater und damit als Privatperson“. Zu keiner Zeit habe es „eine Vermischung privater und dienstlicher Angelegenheiten“ gegeben. „Den Vorwurf von Drohungen, Amtsmissbrauch oder unrechtmäßiger Einflussnahme weisen wir daher auf das Schärfste zurück“, so die Eltern in ihrer Mail an FOCUS. Dass Lauinger den Vorgang als privat darstellt, ist pikant. Denn demnach hätte er für seine Bemühungen keine dienstlichen Kanäle nutzen und keine Mitarbeiter seines Ministeriums einspannen dürfen. Die Frage ist: Stimmt das? Und: Was wusste Ramelow?

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„Globales Datennetz nötig“

Der weltweit oberste Polizist, Interpol-Chef Jürgen Stock, fordert im Kampf gegen den Terror ein schnelles Umdenken: Staaten müssen Informationen besser austauschen

 

Er soll die Welt sicherer machen: Jürgen Stock aus Wetzlar leitet seit November 2014 die internationale Polizeibehörde Interpol mit Sitz in Lyon. In die noch kurze Amtszeit des 56-jährigen Juristen, einst Vizechef des Bundeskriminalamts (BKA), fallen zahlreiche Terroranschläge, darunter die Attacken in Paris, Ankara, Istanbul und zuletzt Brüssel. Kurz vor seinem Abflug nach Washington, wo US-Präsident Obama am Donnerstag mit Politikern und Sicherheitsexperten aus aller Welt über die Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) sprach, befragte FOCUS den Interpol-Chef zu seiner Strategie gegen den globalen Terror.

 

Stock mahnt an, dass der Informations- und Datenaustausch zwischen einzelnen Staaten erheblich verbessert werden müsse. „Die in diesem Maße noch nie dagewesene globale Dimension des Terrors erfordert, dass die 190 Mitgliedsländer von Interpol ihre Informationen über die Grenzen der Kontinente hinaus intensiver miteinander teilen“, so Stock. Der oberste Weltpolizist glaubt, dass die bilaterale Zusammenarbeit von Behörden nicht mehr ausreiche: „Wir brauchen ein globales Informationsnetz, an dem sich möglichst alle Staaten beteiligen.“ Dabei gehe es vor allem darum, Reisewege von Terroristen früh zu erkennen und Hinweise auf gefälschte Pässe zu erlangen. „Ein einzelnes Land ist kaum in der Lage, so etwas zu überblicken.“

 

Stock fordert, die entsprechenden Interpol-Datenbanken stärker zu nutzen. Sie ermöglichten einen „weltweiten Informationsaustausch in Echtzeit“ sowie Analysen zu Taten und Tätern. „Einige Länder liefern rege Informationen, andere tun das sehr viel zurückhaltender. Wir arbeiten daran, diesen Prozess weiter zu verbessern.“ Derzeit scheitert die Weitergabe von Daten an Interpol oft an rechtlichen Vorgaben eines Staates oder am Veto von Geheimdiensten. Zudem scheuen viele Behörden davor zurück, ihr „exklusives“ Wissen mit anderen zu teilen.

 

Lücken gibt es etwa in der Datei „Foreign Terrorist Fighters“, der einzigen globalen polizeilichen Terrorismus-Datenbank. Derzeit sind dort etwa 6000 Profile von weltweit kämpfenden Terroristen aus mehr als 50 Staaten gespeichert. Doch allein im Konfliktgebiet Syrien/Irak sind schätzungsweise 30 000 Kämpfer aus mehr als 100 Staaten aktiv, darunter etwa 5000 aus Europa. Hinzu kommen Tausende Gotteskrieger in Afrika und Asien. „Leider enthält unsere Datenbank nur einen Teil der Terroristen, die den nationalen Sicherheitsbehörden bekannt sind“, so Stock. Dennoch sieht er Fortschritte. Als Interpol die Datei 2013 aufbaute, bestand sie aus gerade mal zwölf Einträgen. „Heute bekommen wir monatlich 200 neue Personensätze.“

 

Als unverzichtbares Instrument zur Terror-Abwehr nennt Stock die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingerichtete Interpol-Datenbank „Stolen and Lost Travel Documents“. Sie erfasst aktuell 56,4 Millionen gestohlene und verlorene Reisepässe aus 172 Staaten. Brisant: 250 000 davon stammen aus Syrien und dem Irak, erbeutet vermutlich von der Terrormiliz IS. Experten warnen, Kämpfer könnten die Dokumente nutzen, um Anschläge in Europa zu begehen.

 

Stock: „Dass wir die Nummern der Pässe in unserer Datenbank haben, ist wichtig. Erfolgreich sind wir aber nur, wenn die Informationen auch an Kontrollpunkten, vor allem Grenzen, verfügbar sind.“ Interpol sei bereit, die Daten abrufbar zu machen. „Ob und wie sie genutzt werden, ist Sache der EU und deren Mitgliedsstaaten.“ Für richtig hält Stock den Beschluss der EU-Innen- und Justizminister vom November 2015, den Datenzugriff an allen Schengen-Außengrenzen einzurichten.

 

Interpol ermittelt nicht selbst, die Behörde koordiniert lediglich den Datenfluss zwischen Ländern und verbreitet deren Fahndungsaufrufe. Belgien suchte seit längerem den Terror-Verdächtigen Khalid El Bakraoui, 27. Bevor man ihn fasste, verübte er das Selbstmord-Attentat in der Brüsseler Metro.

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