Göran Schattauer | „Pornografie des Grauens“
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Erstmals spricht der Gießener Rechtsmediziner Manfred Riße über seinen bizarrsten Fall: den „Kannibalen von Rotenburg“

 

Der Kannibale Armin Meiwes hat die Entmannung, Tötung und Schlachtung seines Opfers Bernd Brandes auf Video gebannt. Sie haben den Film kurz nach Meiwes‘ Festnahme gesehen. Was empfanden Sie?
Erstmals in meinem Berufsleben habe ich nasse Hände bekommen, es lief mir eiskalt den Rücken runter. Ich mache den Job seit 20 Jahren, habe 5000 Obduktionen durchgeführt und mehr als 30000 Leichen gesehen. Der Kannibalen-Film hat die Grenzen dessen gesprengt, was ich bis dahin an Ekelerregendem, Abstoßendem kannte.

 

Ihrer Frau haben Sie am Abend alles haarklein erzählt?
In Umrissen, keine Details. Sie sagte später, ich wäre ein anderer Mensch gewesen. Fleisch konnte ich jedenfalls an dem Tag nicht mehr essen. Mir war der Appetit vergangen.

 

Wie kamen Sie an den Auftrag?
Am Institut ging ein Fax ein. Es hieß, ein Mann habe einen Menschen getötet, geschlachtet und zum Essen eingetütet. In einer Kühltruhe seien Portionen eingefrorenen Fleisches gefunden worden. Wir sollten das Material untersuchen. Es kam per Leichenwagen im Zinksarg, am 13. Dezember 2002.

Was mussten Sie analysieren?

Zum Beispiel einen Fuß. Meiwes hatte ihn auf einen Teller gestellt, Messer und Gabel hineingesteckt, mit Soße angerichtet und fotografiert, um ihn ins Internet zu stellen. Wir prüften, ob es Brandes‘ Fuß war. Er war es.

 

Und was noch?
Schädel, Knochen, Skelett- und Weichteile sowie etwa 30 Fleischpakete. Auf einem stand „Cator, Nackenfilet, 10/03/01“, andere Beschriftungen erinnerten an Etikettierungen aus dem Supermarkt, etwa „Hackfleisch mit Sauce“. Wir haben DNA-Vergleiche gemacht, Röntgenbilder, toxikologische Untersuchungen — die ganze Palette.

 

Gab es einen Unterschied zur Obduktion „normaler“ Toter?
Handwerklich nicht, wohl aber emotional. Als Rechtsmediziner bekommt man solch einen Fall — wenn überhaupt — nur einmal im Leben. Ein echtes „Highlight“.

 

Der von Meiwes gedrehte Film hat Sie angeekelt. Waren Sie zugleich fasziniert?
In gewisser Weise schon. Kannibalismus ist ja grundsätzlich mit zwei Dingen behaftet. Zum einen dieses Widerwärtige, Abstoßende. Zum anderen die Neugier, die Spannung, die Faszination des Unfassbaren. Ich nenne es die Pornografie des Grauens.

 

Ist der Streifen für einen Rechtsmediziner nicht auch eine ziemlich einzigartige wissenschaftliche Dokumentation?
In der Tat. Der Film stellt eine exzellente, weil absolut authentische Quelle dar. Das Leiden und Sterben des Opfers ist objektiv nachvollziehbar. Man sieht quasi eins zu eins, wie Herr Brandes den Vernichtungsschmerz empfand, wann die Bewusstlosigkeit eintrat und wie lange er noch lebte.

 

Hat Sie das überrascht?
Zugegebenermaßen. Ich hätte gedacht, der Mann fällt in Ohnmacht und verblutet sehr viel schneller. Es waren schließlich kräftige Gefäße geöffnet, und Brandes versuchte ja sogar, die Blutung zu beschleunigen.
An einer Stelle schlägt das bereits entmannte Opfer ernsthaft vor: „Wenn ich morgen früh noch lebe, essen wir meine Eier zum Frühstück.“ Was sagen Sie dazu?
Eine erschreckende Szene, völlig wahnsinnig. Ich wollte kaum glauben, dass ein schwer verletzter Mann im Stande ist, so etwas zu äußern. Es klang wie in einem schlechten Comedy-Film. Doch es war real.

 

Wie hat sich Meiwes beim Zerlegen des Körpers angestellt?
Ungeschickt, geradezu amateurhaft. Er hat den Leichnam kopfüber an einem Fleischerhaken aufgehängt und zerteilt. Man sah, dass Meiwes über keinerlei anatomische Kenntnisse verfügt. Er konnte Dick- und Dünndarm nicht unterscheiden, wusste nicht, wo die Leber sitzt, und staunte über die Farbe des Fleisches. Er sagte: „Ich dachte, es wäre heller. Nur aus Erfahrung lernt man.“ Es war klar, dass er kein Wiederholungstäter sein konnte.

 

Was haben Sie aus dem viereinhalbstündigen Video noch abgeleitet?
Eine der zentralen Fragen im Gerichtsprozess war, ob das Opfer noch lebte, als Meiwes den finalen Halsschnitt ansetzte. Das konnte ich als Gutachter eindeutig bejahen. Brandes hat noch geatmet. Zudem muss sein Herz noch geschlagen haben, denn aus der Halswunde sprudelte sehr viel Blut.
Meiwes war anderer Meinung …
Als ich mein Gutachten vortrug, ist er sehr böse geworden. Er brachte einen kleinen Pappbecher mit ins Gericht und sagte, er habe die Szene in seiner Zelle nachgestellt — es wären höchstens 75 Milliliter Blut geflossen. Sein Anwalt versuchte, einen neuen rechtsmedizinischen Gutachter zu bestellen. Vergeblich.

 

Wie haben Sie Meiwes erlebt?
Bis auf die gerade beschriebene Boshaftigkeit war er stets eloquent, freundlich, korrekt, immer lächelnd. Als der Film unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt wurde, hat Meiwes sehr interessiert zugeschaut.

 

Sie haben über Ihre Arbeit an dem Fall ein Buch geschrieben. Warum?
Weil die Öffentlichkeit wissen soll, was wirklich passiert ist. Kannibalismus hat es schon immer gegeben. Doch die Kombination, dass sich jemand töten, schlachten und verspeisen lassen wollte, ist weltweit einzigartig. Insofern ist es nicht nur der „Fall Meiwes“, sondern auch der „Fall Brandes“.

 

Haben Sie eine Ahnung, wie Menschenfleisch schmeckt?
Ich will es gar nicht wissen.

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