Göran Schattauer | „Da bin ich gnadenlos“
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Berlin gilt als Hauptstadt der Jugendgewalt. Doch das negative Image habe mit der Realität wenig zu tun, sagt Jugendrichterin Corinna Sassenroth – und liefert erstaunliche Beweise

 

Eine zierliche Frau, dunkelblond, lockere Bob-Frisur, betritt Saal B 145 im Amtsgericht Tiergarten. Sie trägt enge Jeans und Schuhe mit hohen Absätzen. Man würde sie auf Anfang 40 schätzen, dabei hat sie vergangenes Jahr ihren 50. Geburtstag gefeiert. Freundlich begrüßt Jugendrichterin Corinna Sassenroth den Angeklagten, einen bulligen Brillenträger mit Kapuzenjacke und hippen Turnschuhen. Er hat bei Ebay Modeschmuck verkauft und Kunden um 148 Euro geprellt. Eigentlich Peanuts. Aber der Jugendliche ist sechsmal vorbestraft, auch wegen Betrugs. Stets war er mit Verwarnungen und kleinen Geldstrafen davongekommen. Und diesmal? „Im Namen des Volkes verurteile ich Sie zu neun Monaten Haft“, ruft die Richterin in den Saal. Die Strafe werde für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. „Noch ein krummes Ding, und Sie gehen in den Knast“, warnt Sassenroth. Der Täter, von der Härte des Urteils kalt erwischt, nickt schweigend. Es scheint, als habe er verstanden, was die Frau in der Robe von ihm erwartet: dass er sich nie wieder bei ihr blicken lässt. Eine große Chance. Seine letzte.

 

Nach der Verhandlung sitzt die Jugendrichterin, die schnell eine selbst gedrehte Zigarette geraucht hat („Mein einziges Laster“), in ihrem Büro mit der Nummer E 202. Abgeschabte Möbel, kein Fernseher, ein vertrockneter Elefantenfuß auf dem Fensterbrett. Neben dem Computer stapeln sich Ermittlungsakten. Es geht um Diebstahl und Schwarzfahren, Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Sachbeschädigung, Drogenhandel. „Manche Straftaten sind wirklich krass“, meint Sassenroth, die aus der Nähe von Bremen stammt und eine von insgesamt 30 Jugendrichterinnen und -richtern in Berlin ist.

 

In der Hauptstadt leben fast 1000 junge, zum Teil hochgefährliche Intensiv- und Mehrfachtäter. Türkisch-arabische Banden beherrschen halbe Stadtviertel. In Polizeiberichten ist ständig von Raubtaten die Rede, von Messerstechereien und Prügelattacken. Angesichts solcher Zustände müsste die Jugendrichterin verzweifeln. Doch Sassenroth ist alles andere als eine verbitterte, desillusionierte Strafverfolgerin. Sie empfindet sich nicht als Putzhilfe, die nur noch die Scherben aufkehren muss, die andere hinterlassen haben: gleichgültige Eltern, hilflose Lehrer, überforderte Ämter, der schwache Staat. Vielmehr glaubt sie daran, junge Straftäter wieder auf den richtigen Weg bringen zu können. „Das klappt öfter, als viele denken.“ Sassenroth erzählt von üblen Schlägern, die sie statt ins Gefängnis in Erziehungscamps schickte und die danach nie wieder etwas mit der Polizei zu tun hatten. Und weil sie gerade bei den positiven Aspekten ihrer Arbeit ist, zieht sie einen Papierbogen aus der Schublade, die interne Bilanz der Berliner Justizverwaltung für die Jahre 2008 bis 2013.

 

In dieser Zeit sank die Zahl der Jugendstrafverfahren beim Amtsgericht Tiergarten, das für ganz Berlin zuständig ist, um 45 Prozent – von 17 397 auf zuletzt 9613. Das Landgericht Berlin, wo die schweren Jugenddelikte verhandelt werden, verzeichnete im selben Zeitraum einen Rückgang der Fälle von 457 auf 310. Die Fakten klingen ermutigend. Aber wie lässt sich die Entwicklung erklären? Sassenroth sagt, die Berliner Justiz reagiere heute sehr viel schneller auf Jugendkriminalität. Vom Eingang eines Verfahrens bei Gericht bis zum Urteil vergehen durchschnittlich 2,6 Monate. Vor ein paar Jahren waren es 3,8 Monate. „Je schneller der Staat eine Straftat ahndet“, weiß die Expertin, „desto größer ist die erzieherische Wirkung.“ Außerdem würden Polizei, Jugendämter, Sozialbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichte jetzt besser zusammenarbeiten. Oft ließen sich Jugendliche von einer kriminellen Karriere abbringen, bevor sie richtig begonnen hat. Seit ein paar Jahren bietet die Berliner Justiz eine Art Rechtskunde-Unterricht an.

 

Mehr als 5000 Schüler haben an dem Präventionsprojekt schon teilgenommen – und dabei hautnah erfahren, welche Folgen Gesetzesbrüche haben können. In den Kursen befassen sich die Mädchen und Jungen intensiv mit alterstypischen Straftaten, etwa dem Raub eines Smartphones auf dem Pausenhof. Dabei stellen die Schüler das Delikt spielerisch nach. Einer übernimmt den Part des Täters, andere mimen Opfer und Zeugen. Am Ende kommt es zu einem Strafprozess im Amtsgericht mit echten Staatsanwälten und echten Richtern.

 

Manchmal steht auch Corinna Sassenroth vor einer Klasse, standesgemäß in Robe, und führt eine Verhandlung. Dabei verströmt sie nicht die Aura einer moralinsauren Gesetzeshüterin, die mit gestrenger Miene das Böse bekämpft. Eher wirkt sie wie eine coole Lehrerin, die zufällig etwas von Paragrafen versteht. Das muss kein Nachteil sein in ihrem Job. Die Mutter von zwei Kindern, 13 und 16 Jahre alt, trifft genau den Ton, den Jugendliche verstehen, ohne dass sie sich bei ihnen anbiedert. Warum sollte sie ihre Klientel mit ellenlangen Zitaten aus Ermittlungsakten langweilen? Manchmal reicht der Hinweis „Seite 37, trallala, trallala“.

 

So locker sie oft daherkommt, einen Fehler sollte man bei Sassenroth nie machen: sie unterschätzen. Wenn Jugendliche in der S-Bahn pöbeln oder Kinder vom Spielplatz vertreiben, geht sie dazwischen, oft als Einzige. Mit ihrer kecken Art verschafft sich die 1,58 Meter große Frau bei Tätern Respekt – auf der Straße und im Gericht. Sassenroth liebt ihren Beruf. Und sie nimmt ihn ernst. Sie sagt Sätze wie: „Ich will jeden Angeklagten fair behandeln.“ Am Anfang jeder Verhandlung versetzt sich die Richterin in die Welt des Beschuldigten. Sie fragt, welche Probleme es zu Hause gebe, wie viel Taschengeld er bekomme, wie es in der Schule laufe, ob er Drogen nehme.

 

Dass sich jemand für sie interessiert, ist für viele Jugendliche eine neue Erfahrung – und verrät einiges über die Verhältnisse, in denen sie aufwachsen. Manche Eltern betteln Sassenroth an, sie möge den Sohn rigoros bestrafen: „Greifen Sie mal richtig durch!“

 

Solche Forderungen hört man immer wieder. Eine frühere Kollegin Sassenroths, die Jugendrichterin Kirsten Heisig, hatte damit vor Jahren bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Bis zu ihrem Suizid 2010 beklagte sie in Interviews und Talkshows, der Staat müsse mehr Härte zeigen, sonst werde er „den Kampf gegen die Jugendgewalt verlieren“.

 

Auch Sassenroth plädiert dafür, konsequent gegen junge Täter vorzugehen. Verbrechern, die keinerlei Reue zeigen und alle staatlichen Warnungen missachten, müsse man die Grenzen aufzeigen. „Da bin ich gnadenlos.“ Zugleich mahnt sie: „Wenn ich jeden gleich wegsperren würde, wäre keinem geholfen – weder dem Jugendlichen noch der Gesellschaft.“ Ihre Aufgabe sei es, Jugendliche zu erziehen. „Nur draufhauen ist zu wenig.“ Der Ebay-Betrüger, den sie heute verurteilt hat, muss sich jetzt zusammenreißen. „Ich hoffe, dass er nicht wieder straffällig wird“, sagt Sassenroth. Käme es so, hätte sie alles richtig gemacht.

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