Göran Schattauer | Das Märchen vom sicheren Schließfach
21823
portfolio_page-template-default,single,single-portfolio_page,postid-21823,ajax_fade,page_not_loaded,,select-child-theme-ver-1.0.0,select-theme-ver-3.7,vertical_menu_enabled,wpb-js-composer js-comp-ver-6.9.0,vc_responsive

Ganz Deutschland staunte über den dreisten Millionen-Coup der Berliner Tunnelräuber. Der Fall zeigt, wie schlecht manche Banken geschützt sind – und welches Risiko Tresormieter eingehen

 

Die Täter vollbrachten eine logistische Meisterleistung, ihr Coup verdient das Prädikat „hollywoodreif“. Zunächst mieteten sie eine Tiefgarage in einem Ärztehaus und frästen ein gewaltiges Loch in die Rückwand. Dann trieben sie einen Stollen ins Erdreich, etwa 45 Meter lang, 80 Zentimeter breit, 1,50 Meter hoch. Am Ende monatelanger Grabungen erreichten die Gangster ihr Ziel: den Tresorraum der Berliner Volksbank im Bezirk Steglitz. Nachdem sie die 60 Zentimeter dicke Grundmauer mit einem Kernbohrer durchbrochen hatten, räumten sie rund 300 Schließfächer leer. Die Beute: Gold, Silber, Diamanten, Luxusuhren, Bargeld. Wert: zehn Millionen Euro. Um Spuren zu vernichten, legten die Panzerknacker vor ihrer Flucht am Tatort Feuer. Der Rauch löste am 14. Januar 2013 Alarm aus, morgens um 5.51 Uhr.

 

Seit mehr als einem Jahr ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft unter dem Aktenzeichen 255 Js 9/13 wegen schweren Bandendiebstahls (bis zu zehn Jahre Haft) gegen unbekannt. Die Fahnder verglichen DNA-Muster, veröffentlichten Phantombilder, suchten die Täter bei „Aktenzeichen XY . . . ungelöst“ – bislang erfolglos. „Wir haben keine heiße Spur“, berichtet ein Strafverfolger, „nicht mal eine warme.“

 

Der Berliner Tunnelraub zählt zu den spektakulärsten Verbrechen der jüngeren Kriminalgeschichte. Darüber hinaus wirft der Fall grundsätzliche Fragen auf, die Zehntausende Bankkunden in ganz Deutschland betreffen: Wie sicher sind Schließfächer und Tresorräume wirklich? Wer haftet bei einem Einbruch? Müssen Banken auf Risiken hinweisen, die mit der Vergabe eines Schließfachs verbunden sind? Oder reicht das Kleingedruckte im Mietvertrag? All diese Punkte könnten demnächst die Gerichte beschäftigen. Während Opferanwälte bereits Klagen gegen die Volksbank vorbereiten, weisen die Verantwortlichen des Geldhauses jede Schuld von sich. Sie behaupten, die „baulichen und technischen Sicherungsmaßnahmen“ für die Schließfachanlage hätten höchsten Ansprüchen genügt.

 

Ermittlungsakten der Polizei, die FOCUS vorliegen, lassen Zweifel an dieser Darstellung aufkommen. Vielmehr nähren sie den Verdacht, dass gravierende Sicherheitsmängel in der Bank den Bruch erst ermöglichten. Laut einem Untersuchungsbericht des Berliner Landeskriminalamts (LKA) verfügten die Wände des Bunkers über keinerlei Schutzmechanismen. Es gab weder Erschütterungsmelder noch einbetonierte Drahtschleifen, die beim Eindringen ins Mauerwerk Alarm schlagen. Damit, so das LKA, seien die „Mindestanforderungen“ an Wertschutzräume nicht erfüllt gewesen.

 

Kein Wunder also, dass die Verbrecher problemlos ins Allerheiligste der Bank vordringen konnten. Aber hätte nicht spätestens jetzt, beim Betreten des Tresorraums, die Alarmanlage anspringen müssen? Normalerweise schon, aber auch hier stellten die Kriminaltechniker Erstaunliches fest. An der Decke des 2,20 Meter hohen Raums befanden sich zwei Infrarot-Bewegungsmelder der Firma Siemens. Sie reagieren auf Körperwärme und hätten die Eindringlinge mühelos erkannt. Doch laut Polizei erfassten die Sensoren nur etwa die Hälfte des 57-Quadratmeter-Raums. Der Rest der Schatzkammer blieb unbeobachtet, darunter der gesamte Tatbereich.

 

Kurioser Grund: Das Blickfeld von einem der beiden Sensoren endete an einer Schließfachwand, die in der Mitte des Raumes stand. Der Bewegungsmelder konnte weder „um die Ecke“ schauen noch durch das Hindernis „hindurch sehen“, so die Fahnder des LKA. Der Erfassungsbereich der Alarmsensoren sei durch die Mietfachschränke „teilweise stark eingeschränkt“ gewesen. Letzten Endes hätten die Alarmsensoren „bestenfalls eine fallenmäßige Absicherung“ erfüllt, heißt es in den Akten. Auf Deutsch: Die Überwachung des Tresorraums erstreckte sich auf wenige Punkte. Von einer Kontrolle der gesamten Fläche, wie von Experten gefordert, keine Spur.

 

Doch warum knackten die Täter nicht alle 1614 Schließfächer, sondern nur jene 300, die im unbewachten Bereich standen? Für das Berliner LKA bestehen keinerlei Zweifel: Die Einbrecher müssen die Schwächen des Alarmsystems „gekannt und berücksichtigt“ haben. Zudem wussten sie, dass es neben den Bewegungsmeldern „keine weiteren Alarmsensoren gab“. Fest steht, dass mindestens ein Täter den Tresorraum lange vor dem Einbruch ausspioniert hat. Unter einem Tarnnamen („Pavel Hatira“) mietete er ein Schließfach und konnte sich so im Kellergeschoss der Volksbank ungestört umsehen. Aber reichte das aus, um die mangelhaften Schutzmaßnahmen zu analysieren?

 

Akribisch sind die Ermittler dem Verdacht nachgegangen, die Einbrecher könnten mit Bankangestellten oder Wachleuten gekungelt haben. Dafür gibt es jedoch keine Beweise. Allerdings finden sich in den Akten Merkwürdigkeiten rund um eine Einbruchsmeldung vom 12. Januar 2013, also zwei Tage vor der Entdeckung des Millionenraubs. Die Kriminalbeamten vermuten, dass bereits dieser erste Alarm auf das Konto der Tunnelgräber ging. Offenbar wurde er „durch Unachtsamkeit der Täter“ ausgelöst, notierten die Fahnder.

 

Nach FOCUS-Recherchen traf die Überfallmeldung um 7.02 Uhr bei der Wachschutzfirma der Volksbank ein. Die beorderte sofort einen Mitarbeiter zum Tatort. Von außen konnte der Sicherheitsmann nichts Verdächtiges entdecken. Im Inneren der Bank zeigte ihm ein Gerät an, wo der Alarm ausgelöst wurde. Auf dem Display stand „Tresor“.

 

Doch der Experte machte sich nicht die Mühe, den Tresorraum im Keller aufzusuchen. „Ich ging von einem Fehlalarm aus“, erklärte der heute 57-Jährige der Polizei und präzisierte: „Den Alarm hätte eigentlich nur eine Maus auslösen können.“ Oder „eine Spinne vor dem Bewegungsmelder“. Der Kontrolleur löschte die Meldung und schaltete die Anlage wieder scharf. In der LKA-Analyse heißt es, der Mitarbeiter habe „nicht ansatzweise richtig reagiert“. Bei korrektem Verhalten hätte er die Täter womöglich überrascht und den Raubüberfall vereiteln können.

 

„Fehlender Schutz in den Wänden, nahezu wirkungslose Bewegungsmelder, das Versagen des Sicherheitsdienstes nach dem ersten Alarm – viel mehr kann ein Geldinstitut nicht falsch machen“, sagt Michael Plassmann, 51. Der Berliner Rechtsanwalt ist überzeugt, dass die Volksbank gegen Einbrüche dieser Art nicht gewappnet war und den Schaden deshalb ersetzen muss. Plassmann, fast zwei Meter groß, feiner Anzug, westfälischer Akzent, ist Experte für außergerichtliche Streitschlichtungen, ein sogenannter Mediator. Doch im Fall des Tunnelraubs sieht es nicht nach einer gütlichen Einigung aus. Plassmann vertritt mehrere Opfer. Sie verlangen eine Entschädigung für den Verlust ihrer Wertsachen. Die Bank stellt sich quer – und verweist auf eine Klausel in den Mietverträgen:

 

„Die Berliner Volksbank eG hält den Inhalt des Schließfaches nicht versichert. Es bleibt dem Mieter überlassen, ein nicht von der Bank versichertes Risiko durch eine Versicherung abzudecken . . .“

 

Obwohl die Kosten gering sind (104 Euro pro 100 000 Euro Versicherungssumme), hatten gerade mal 50 der 300 Tunnelraub-Opfer eine solche Police abgeschlossen. Diese Gruppe wurde bereits mit 1,8 Millionen Euro entschädigt. Die anderen 250 Betroffenen sollen leer ausgehen.

 

Die Ausgeraubten sind entsetzt. Mehrere Volksbankkunden beteuerten gegenüber FOCUS, sie hätten den brisanten Passus im Kleingedruckten des Vertrags nicht gekannt. Sie seien fest davon ausgegangen, dass ihre Einlagen im Safe geschützt sind und dass die Bank bei Schadensfällen wie Feuer, Überschwemmung oder Einbruch haftet. Dass dies ein Trugschluss war, hätten die Mitarbeiter den Kunden mitteilen müssen, sagt Anwalt Plassmann. Doch eine Information über die Risiken sei „in den meisten Fällen unterblieben“. Deshalb komme eine Haftung der Bank nicht nur wegen der Lücken im Sicherheitssystem in Frage, „sondern auch wegen der unzureichenden Aufklärung“.

 

Sollte ein Gericht diese Auffassung teilen, müssten viele Geldhäuser ihre Regeln bei der Tresorvergabe überdenken. In Deutschland gibt es derzeit keine einheitlichen Mietverträge für Schließfächer. Mal ist eine Versicherung enthalten, mal nicht. Einige Berater informieren über die Risiken, andere unterlassen es. Im Zweifel haben die Kunden das Nachsehen wie in Berlin geschehen.

 

Einer, der viel Geld verloren hat, ist Sasa Radisic. Der 44-Jährige handelt mit Motorrädern. „Für den Ankauf von Maschinen brauche ich hin und wieder größere Summen Bargeld“, sagt er. „Am Schalter kriege ich aber nur kleinere Beträge oder muss tagelang warten.“ Wenige Monate vor dem Tunnelraub mietete Radisic in der Volksbank einen Tresor. Der Vertragsabschluss habe nur wenige Minuten gedauert, erinnert sich der Unternehmer. Auf das Versicherungsrisiko sei er „zu keiner Zeit“ hingewiesen worden. Er bekam zwei Schlüssel für Fach 503, die Jahresgebühr betrug 85 Euro. „Ich hatte dort 85 000 Euro aufbewahrt“, sagt der Berliner, „dazu den Goldschmuck meiner Freundin und den Ersatzschlüssel fürs Auto.“ Das Geld ist weg. Der Schmuck auch. Nur den Schlüssel ließen die Räuber liegen.

 

„Es ist unfassbar“, sagt das Einbruchsopfer. „Da vertraut man sein Erspartes einer Bank an, und am Ende steht man mit leeren Händen da.“ Radisic hat die Konsequenzen gezogen und kümmert sich selbst um seine Finanzen. „Jetzt fühle ich mich wieder sicher“, meint der Geschäftsmann. Ein Bankschließfach werde er „nie wieder nutzen“.

 

Auch die Kunden der Berliner Sparkasse dürften allmählich die Geduld verlieren. Erst in der Silvesternacht hatten Einbrecher in einer Filiale im Bezirk Wedding mehrere Schließfächer geknackt. Vergangene Woche wurde dieselbe Filiale erneut überfallen. Um an die Depots der Sparkassenkunden zu kommen, brauchte es kein schweres Gerät wie beim legendären Tunnelraub. Den Tätern reichten Hammer, Brecheisen und Schraubendreher.

Zurück zur Übersicht