1998 bekommt sie ein Baby. Ein DNA-Gutachten schließt ihren Ex-Freund als Vater aus. Nach jahrelangem Kampf gegen Behörden und Gerichte kann die Mutter beweisen: Sie wurde Opfer eines vertauschten Vaterschaftstests. Ein Drama ohne Beispiel
Von Göran Schattauer und Uli Reinhardt (Fotos)
Die DNA-Spur führt ins Allgäu, in eine Welt, die man für ein Idyll halten könnte. Hinter grünen Hügeln liegt der Bodensee. Die Alpen scheinen zum Greifen nahe. Kinder in Gummistiefeln reiten auf Schweinen. Hier lebt, in einem 400 Jahre alten, liebevoll restaurierten Bauernhof, Alexandra Merkt, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Tochter Sina. Am Abend sitzen sie bei Käse, Speck und Birnenmost um einen Holztisch in der Stube. Ein Katze schnurrt auf der Bank. Vor dem Kachelofen dösen drei Hunde.
Auf ihrem Schreibtisch im Dachgeschoss verwahrt Alexandra Merkt einen dicken Leitz-Ordner und in diesem Leitz-Ordner ihre Geschichte, die Geschichte eines verzweifelten Kampfes. Der Metallbügel kann die Menge der Bescheide und Protokolle kaum halten. Einige Blätter tragen den roten Stempelaufdruck „Eilt sehr!“. Dennoch zieht sich der Fall seit zehn Jahren hin, ein ganzes Kinderleben lang. Alexandra Merkt und ihre Tochter traf etwas Unfassbares. Etwas, das Juristen, Biologen und Kriminalisten für ausgeschlossen hielten, ein einziger Fall unter Millionen. Alexandra Merkt und ihre Tochter wurden Opfer eines vertauschten Vaterschaftstests.
Die Papiere erzählen von einem verhängnisvollen Fehler und abgestrittener Verantwortung. Sie beschreiben einen Feldzug für Wahrheit und Recht. Ein Professor taucht in ihnen auf, der sich für unfehlbar hielt. Rechtsanwälte, Richter und Amtsmenschen spielen unrühmliche Rollen. Jeder glaubte den Akten. Der Mutter glaubte keiner. Als sie im Büro der Familienministerin anrief und um ein Gespräch bat, hörte sie im Hintergrund Gelächter.
Im März 1997 ist Alexandra Merkt 29 Jahre alt. Eine flippige Frau aus Stuttgart. Mit ihren raspelkurzen Haaren erinnert sie an Marie Fredriksson, die Sängerin der Popgruppe Roxette. In einem Irish Pub lernt sie Jörg-Oliver B. kennen. Einen stattlichen Mann von 30 Jahren mit frechen Sprüchen und viel Selbstvertrauen. Vielleicht fasziniert sie seine gespielte Arroganz, seine Masche, so zu tun, als könne er, der Schöne und Coole, jeder Frau widerstehen. Nach ein paar Monaten ist sie schwanger. Jörg-Oliver B. verspricht, er werde sie tatkräftig unterstützen — beim Abtreiben des Babys. Die Drohung ist ernst gemeint. Einige Wochen später, nach einer vermeintlichen Versöhnungsnacht, sagt er der werdenden Mutter, er habe aus einem einzigen Grund noch einmal mit ihr geschlafen: Damit das Kind in ihrem Bauch stirbt. Dann verlässt er sie.
Sina Merkt kommt am 15. April 1998 in Stuttgart zur Welt. Die Geburt verläuft dramatisch. Das Baby hat Unterzucker und muss wochenlang in den Brutkasten. Alexandra Merkt weiß, es wird nicht einfach werden, allein mit dem Kind, auch finanziell. Sie hat nie viel verdient. Hauptschulabschluss, Lehre im Einzelhandel, Jobs als Verkäuferin und Kellnerin, später Mitarbeiterin einer Baufirma, Versicherungsangestellte und Shopmanagerin bei einem Eiscremehersteller. Vielleicht würde sie heute als Stewardess um die Welt fliegen. Kaum hat sie sich beworben, signalisiert der Schwangerschaftstest ein neues Leben.
Dass dieses Leben ohne Jörg-Oliver B. weitergehen würde, lernt Alexandra Merkt zu akzeptieren. Dass er sich um den Unterhalt drückt und deshalb bestreitet, Sinas Vater zu sein, damit will sie sich nicht abfinden. Zwei Monate nach der Geburt fährt die Mutter zum Jugendamt und beantragt Unterhaltsvorschuss. Als Kindsvater gibt sie Jörg-Oliver B. an. Der behauptet jedoch, er habe „geraume Zeit vor Beginn der Empfängniszeit“ mit der Frau „keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt“. So bleibt der Mutter nichts anderes übrig, als die Feststellung der Vaterschaft einzuklagen. Am 26. November 1998 ordnet das Amtsgericht Stuttgart ein Abstammungsgutachten an. Als Sachverständigen bestellt es Horst Ritter, Leiter des Instituts für Anthropologie und Humangenetik der Universität Tübingen.
Jörg-Oliver B. erscheint pünktlich. Er zeigt seinen Personalausweis, lässt den Abdruck des linken Daumens nehmen und ein Foto von sich schießen. Auf dem Bild formt sich sein Mund zu einem merkwürdigen Lächeln. Man könnte meinen, der Mann ahnt schon vor der Blutabnahme, welches Ergebnis der Vergleich seines Erbguts mit dem von Kind und Mutter erbringen würde. Fünf Wochen später, am 16. Februar 1999, gibt Horst Ritter sein vierseitiges Gutachten ab. Der Experte, der die Titel „Prof. Dr. med. Dr.“ führen darf, schreibt: „Es ist aus genetischen Gründen unmöglich, dass der Beklagte der Erzeuger des Kindes Sina Merkt ist.“ Der Mann sei „voll beweiskräftig“ von der Vaterschaft ausgeschlossen.
Die Nachricht, die ihr Leben ins Wanken bringen sollte, erreicht Alexandra Merkt am Telefon. Schadenfroh singt ihr Ex: „Ich bin’s nicht, ich bin’s nicht, nanananana!“ Ein Scherz, durchfährt es die Mutter, ein böser Traum. Als sie kurz darauf das Gutachten in den Händen hält, baut sich in ihr ein monströses Gefühl der Ohnmacht auf. Beim Leben ihrer Tochter kann sie schwören: Er ist der Vater! Im Tagebuch hat sie sogar Ort und Zeit der Zeugung vermerkt. Er muss der Vater sein! In dieser Gewissheit geht Alexandra Merkt erneut vor Gericht. Dort, so hofft sie, werde man ihr glauben und einen neuen DNA-Test veranlassen.
Am 25. März 1999 urteilt das Amtsgericht Stuttgart: Die Klage wird abgewiesen. Grund sei das “überzeugende Sachverständigengutachten“. Die Expertise habe zweifelsfrei „widerlegt“, dass Jörg-Oliver B. der Vater ist. Widerlegt? Überzeugendes Gutachten? Alexandra Merkt versteht die Welt nicht mehr, und die Welt sie nicht. Die eigenen Rechtsanwälte raten von weiteren Schritten ab, scheinen ihrer Mandantin nicht wirklich zu vertrauen. Ihre Lage sei „aussichtslos“, schrieb ihr einer. Als Jurist sehe er „keine Chancen“ mehr. Die beste Freundin redet ihr ein, es könnte doch ein anderer Mann im Spiel gewesen sein.
Alexandra Merkt glaubt, verrückt zu werden. Sie verliert den klaren Blick, traut ihren Sinnen nicht mehr, zweifelt an ihrem Verstand. Sie fühlt sich umgeben von bösen Zungen, die alle sagen: Lügnerin! Gib auf! Sie wird krank. Magert ab. Fällt in schwerste Depressionen. So verzweifelt ist sie, dass sie einen Mann, den sie lediglich einmal geküsst hat, zu einem Vaterschaftstest überredet.
Wo kein Vater, da kein Unterhaltsvorschuss. Immer wieder hört Alexandra Merkt diesen Satz. Die Sachbearbeiter in den Ämtern werfen ihr vor, sie wirke an der Aufklärung „nicht mit“. Sie kürzen ihr die Sozialhilfe um jene 110 Euro, die ihr theoretisch als Unterhalt zustehen — die sie aber nicht erhält. Weil offiziell kein Vater existiert. Immer wieder verlangen Familien- und Verwaltungsrichter, sie solle endlich den Namen nennen. Robbie Williams, antwortet sie irgendwann. Oder verweist auf ihren zweiten Vornamen: Maria. Vielleicht sei sie unbefleckt schwanger geworden. Die Richter finden das nicht lustig. Alexandra Merkt auch nicht.
Als sie im März 2003 vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart den Unterhalt erstreiten will, schreibt sie: „Ich bin der Auffassung, dass die bei Herrn B. genommene Blutprobe vertauscht worden sein muss.“ Als Indiz legt sie zwei Fotos bei. Das eine zeigt ihre Tochter Sina im Alter von etwa vier Jahren. Auf dem anderen ist die Schwester von Jörg-Oliver B. zu sehen. Augen, Mund und Mimik scheinen identisch. Die Richter wollen keinen Zusammenhang erkennen. Es gebe ja das “überzeugende“ DNA-Gutachten. Dabei müssten sie sich nur eine Frage stellen: Warum sollte eine Frau über Jahre hinweg eine Lüge aufrechterhalten, die ihr selbst und ihrem Kind so schadet?
Nie hat die Mutter die Vaterkatastrophe vor ihrer Tochter verheimlicht. Sina bekommt alles mit, von Anfang an. Wenn ihre Mutter mit den Nerven am Ende ist, findet sie Zuflucht bei ihrer Tante Joana oder den Großeltern. In der staatlichen Grundschule wird sie gehänselt. „Du hast ja keinen Papa!“, rufen Mitschüler. Eine grausame, für ein Kind unerträgliche Wahrheit. Wochenlang verkriecht Sina sich zu Hause. Gebrochenes Kinderherz. So würde ihr Arzt seine Diagnose nicht formulieren. Er umschreibt: oft traurig, starke Kopfschmerzen, Brechanfälle, psychische Auffälligkeiten, extreme Lichtempfindlichkeit.
Alexandra Merkt, vor Gericht ohne Chance, würde alles tun, um an die DNA des Mannes zu kommen, den sie als ihren Feind zu sehen lernt. Ihm auflauern und ein Büschel Haare ausreißen. Zigarettenkippen sammeln. Gebrauchte Taschentücher stehlen. Anfangs weiß sie nicht einmal seine Adresse. Nach monatelanger Recherche findet sie ihn schließlich in einer weit entfernten Großstadt. Sie beauftragt einen Privatdetektiv, doch dessen Beobachtungen erweisen sich als unbrauchbar. Als ebenso nutzlos wie eine ältere Postkarte von Jörg-Oliver B. Der Speichel an der Briefmarke, das ergibt eine DNA-Analyse, stammt von einer Frau. Bleiben drei Zigarettenstummel der Marke Philip Morris. Bekannte ihres Ex-Freundes haben ihr aus Mitleid die Kippen zugespielt. Sorgsam tütet sie einen der Filter ein und schickt ihn im Februar 2005 an das Labor Delta-Gen im bayerischen Mühldorf am Inn.
Der Molekularbiologe Folke Gräbnitz untersucht den Zigarettenrest. Mit einem Skalpell schneidet er das Ende des Mundstücks ab, dann löst er das Papier. An dem winzigen Fetzen haftet eingetrockneter Speichel, der wiederum Zellen von Wangenschleimhaut enthält. 24 Stunden später kennt Gräbnitz das DNA-Muster jener Person, deren Spucke am Filterpapier klebte. Erst jetzt bittet er seine Auftraggeberin, ihm das Genprofil ihrer Tochter zu faxen, und vergleicht die Zahlenkombinationen. Nach allem, was sich in dem Fall als die Wahrheit etabliert hat, ist das Ergebnis des Wissenschaftlers eine Sensation: Der Raucher ist Sinas Vater. Alexandra Merkt bricht in Tränen aus. Sie tanzt, lacht, schreit vor Freude. Noch begreift sie nicht, dass sie ein Muster ohne Wert besitzt. In Deutschland ist es illegal, sich heimlich anderer Menschen Genmaterial für Abstammungsgutachten zu beschaffen. Kein Gericht würde ein solches Testergebnis anerkennen.
Es bleibt eine einzige, letzte Möglichkeit. Eine, die so nahe liegt, dass keiner der sieben bislang mit dem Fall betrauten Rechtsexperten auf die Idee kam: Alexandra Merkt zeigt ihren Ex-Freund an — wegen Betrugs. Wenn im Institut von Professor Ritter kein Fehler passiert ist, muss B. bei Abgabe der Blutprobe manipuliert haben. Strafverfolger sind verpflichtet, einem solchen Verdacht nachzugehen, anders als Beamte in Jugendämtern. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart legt einen Vorgang an, ein Polizeioberkommissar nimmt die Recherche auf.
Unter dem Druck der Ermittlungen beginnt das Tübinger Labor endlich, die Umstände des Tests genau zu rekonstruieren. Es überprüft diesmal nicht nur die Untersuchung der Probe „S/12/24/98“, sondern betrachtet auch alle Fälle, die 14 Tage vorher und nachher bearbeitet wurden. Die Nachforschungen führen zu einer Mitarbeiterin der Universität. Dort hatte ein Arzt Jörg-Oliver B. am 11. Januar 1999 vorschriftsmäßig Blut abgenommen. Die medizinisch-technische Assistentin füllte die Proben von B. und mehrerer anderer Männer in Reagenzgläser um, die anschließend ins Labor geschickt wurden. Laut Vorschrift müssen die Probengefäße sofort nach der Blutentnahme mit einem fälschungssicheren Klebezettel versehen werden. Auf ihm stehen Name, Vorname und Geburtsdatum des Untersuchten. Das hat die Assistentin offenbar versäumt. Ein Mann trug zufällig den gleichen Vornamen wie Jörg-Oliver B. Bei der nachträglichen Kennzeichnung unterlief der Mitarbeiterin ein Zahlendreher. Sie ordnete das Blut der beiden falsch zu. Im November 2005 räumt das Labor ein, dass es beim Vaterschaftstest „zu einer Verwechslung der Proben“ gekommen war. Im Fall des zweiten Jörg-Oliver hatte die falsche Zuordnung des Blutes keine Folgen. In seinem Verfahren konnte ein anderer Mann „mit Sicherheit“ als Erzeuger festgestellt werden.
„Ich habe fast acht Jahre die Hölle durchgemacht“, schreibt Alexandra Merkt dem „sehr geehrten Herrn Professor Ritter“ im Februar 2006. Sie erinnert ihn an ihre vielen Flehanrufe, er möge doch prüfen, ob in seinem Labor nicht doch etwas schiefgelaufen sein könnte. An die Demütigungen, die sie und ihre Tochter erfuhren, die Diskriminierungen. An Zerstörungen, die „man nie wieder gutmachen kann“. Sie fragt: „Können Sie sich vorstellen, wie es in mir aussieht?“ Mit seiner Antwort lässt sich Ritter ein halbes Jahr Zeit. Er schreibt, das Ganze tue „uns außerordentlich leid“. Am 4. September 2006 verfasst er ein neues Gutachten. Er kommt nunmehr zum Schluss, dass die Vaterschaft von B. zu 99,999999 Prozent erwiesen ist.
Wie schon im ersten Verfahren 1999 dient Ritters Expertise dem Stuttgarter Amtsgericht auch 2007 als Grundlage für ein Urteil. Es ergeht am 26. Juli und lautet: Jörg-Oliver B. ist Sinas biologischer Vater. Kurz vor dem Richterspruch steht er im Gerichtsflur vor dem Saal 302. Sina will zu ihm. Irgendetwas sagen. Hallo, ich bin’s, deine Tochter. Gern würde sie ihm dabei in die Augen sehen. Doch sein Blick ist wie verschweißt mit dem grauen Fußbodenbelag. Auch im Saal sieht er stumm an dem Mädchen vorbei. Dann läuft er weg. Der Tochter fällt dazu nur ein Wort ein: „Feigling.“
In der Schlacht ihres Lebens verliert Alexandra Merkt ihre Würde, ihre körperliche und seelische Gesundheit und somit die Fähigkeit zu arbeiten. Ihr entgeht so viel Geld, dass sie Privatinsolvenz anmelden muss. Knapp 24000 Euro Unterhalt für ihr Kind büßt sie durch das falsche Abstammungsgutachten ein. Hinzu kommen die Kosten des Rechtsstreits. Ginge es nach gesundem Menschenverstand, hätten die Verantwortlichen längst für den Schaden zahlen müssen. Doch das würde nicht der Logik dieses gespenstischen Falles entsprechen.
Die Continentale Sachversicherung AG mit Sitz in Dortmund führt ihn unter einer Nummer, die sich aus zwei Buchstaben und 13 Ziffern zusammensetzt. Ein sehr langes Zeichen für einen sehr großen Schaden, sollte man meinen. Aus Sicht der Continentale freilich, bei dem der DNA-Gutachter Ritter eine Berufshaftpflichtversicherung abgeschlossen hat, erlitten die Opfer gar keinen Schaden. Zumindest keinen, den man ersetzen müsste. In einem ihrer Briefe benötigt die Sachbearbeiterin vier Zeilen, um „vermeintliche Ansprüche“ abzuschmettern. Zwischen Opfer und Täter habe keine „vertragliche Verbindung“ bestanden. Fast wortgleich argumentieren die Schadensregulierer des Konzerns HDI-Gerling, bei dem das Tübinger Universitätsklinikum versichert ist. Rein nach Paragrafen mag dies zutreffen: Ein Vertrag bestand lediglich zwischen Amtsgericht und Gutachter. Deshalb sollen diejenigen, die auf Grund dieses Vertrags massiv geschädigt wurden, leer ausgehen. Die Opfer verstehen das nicht.
Vor drei Wochen feierte Sina Merkt ihren zehnten Geburtstag. Sie ist ein wunderbares Mädchen mit langem strohblondem Haar und Sonnenaugen. Klug ist sie, quirlig und fröhlich, wenn nicht die Herzsymptome auftreten. In der Freien Schule Allgäu, die kein strenges Regime kennt und wo Lehrer Kinder als Persönlichkeiten ernst nehmen, fühlt sie sich endlich akzeptiert. Sie will Modedesignerin werden. Dutzende Kleider, Hosen und Mützen hat sie entworfen, auch Schmuck. Ihre Filzstiftskizzen bewahrt Sina in einem Aktenordner auf. Er ist fast so dick wie jener mit den Dokumenten des Kampfes ihrer Mutter.
Der Vater wurde inzwischen verurteilt, seinem Kind Unterhalt zu zahlen, rückwirkend und künftig. Doch er hat weder Arbeit noch Geld. Wenn es ihm finanziell besser geht, werde er seinen Verpflichtungen „selbstverständlich nachkommen“, sagt Jörg-Oliver B. Sehen möchte er seine Tochter im Moment nicht. Seit Bekanntwerden des Fehlgutachtens Ende 2005 erhält Sina Merkt 170 EuroUnterhaltsvorschuss vom Jugendamt. Die Behörde legt Wert auf die Feststellung, dass alle früheren Bescheide „zum jeweiligen Sachstand korrekt“ ergingen. Es wäre „keine anderslautende Entscheidung möglich gewesen“.
Auch der Stuttgarter Familienrichter Wolf Andrée-Röhmholdt ist sich keiner Schuld bewusst. 1999 wies der Jurist Alexandra Merkts Klage gegen den Ausgang des Vaterschaftstests ab. 2007 musste er der Mutter Recht geben. „Ich bin froh, dass Frau Merkt mit ihrer Hartnäckigkeit die Wahrheit ans Licht gebracht hat“, sagt Andrée-Röhmholdt nun. Er selbst habe bei der ersten Entscheidung „keinen Spielraum“ gesehen. Ein Richter müsse sich auf die Fakten in den Gutachten verlassen. „Das habe ich getan.“
Der Gutachter Horst Ritter betreibt heute ein privates Institut für humangenetische Analytik und erhält nach wie vor Gerichtsaufträge für Abstammungsgutachten. Im Moment sei er nicht zu sprechen, sagen Mitarbeiter. Gesundheitliche Probleme. Dafür meldet sich sein Rechtsanwalt. Herrn Ritter sei bewusst, dass ihm die DNA-Panne „juristisch zugerechnet“ wird. „Eine moralische Schuld begründet dies jedoch nicht.“ Er habe das falsche Gutachten weder vorsätzlich noch grob fahrlässig erstellt. „Deshalb“, sagt der Jurist, „haftet mein Mandant auch nicht für hieraus eventuell entstandene Schäden.“
Nachdem sie die Wahrheit erzwang, streitet Alexandra Merkt nun um Wiedergutmachung. Ihr mittlerweile achter Rechtsbeistand beurteilt die Chancen skeptisch. Die junge Anwältin hat Sorge, ihre Mandantin könnte durch einen verlorenen Gerichtsprozess noch mehr Schulden anhäufen. Frau Merkt, die mit 39 Jahren von einer kleinen Berufsunfähigkeitsrente leben muss, glaubt nicht an Paragrafen und Advokaten. Schon gar nicht an die vermeintliche Weisheit, dass nur zu seinem Recht kommt, wer reich ist und mächtig. „Ich bin eine einfache Mutter“, sagt sie, „aber ich habe schon einmal gekämpft.“ Allein gegen alle. „Auch wenn ich daran zugrunde gehe, für meine Tochter würde ich alles noch mal genauso machen.“