Göran Schattauer | Der Überzeugungstäter
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Leipzigs Polizeipräsident Bernd Merbitz kämpft seit vielen Jahren gegen Neonazis, Linksextremisten und die Schatten der DDR-Vergangenheit. Von seinen Gegnern wird er auf das Übelste beleidigt und mit dem Tod bedroht. Wie hält der Mann das bloß aus?

 

Leipzigs oberster Polizist dampft. Blaugraue Schwaden umwabern seinen Kopf. Im Kristallaschenbecher türmen sich Filterstücke. Marlboro. Eigentlich darf er hier nicht rauchen, in seinem Büro über den Dächern der Stadt. Aber man wird ihn schon nicht gleich verhaften. Außerdem ist es spät am Abend, die Vorzimmerdamen sind längst zu Hause, der Fahrer auch, seinen persönlichen Assistenten hat Bernd Merbitz gerade verabschiedet. Nur bei ihm brennt noch Licht. Wie so oft. Für ihn gibt es keinen Feierabend. Er hat seine Leute angewiesen, ihn auch nachts rauszuklingeln, wenn es irgendwo eine größere „Lage“ gibt, wie es im Polizeijargon heißt: Bandenkämpfe, Schießereien, Drogen- und Gewaltverbrechen, Raubüberfälle, Angriffe auf Asylheime.

 

Bernd Merbitz, 60, will nicht schlafen, wenn seine Kollegen ausrücken und mal wieder ihren Kopf hinhalten. Er will dabei sein, könnte jederzeit mit anpacken. Regelmäßig absolviert er Schießtraining, auch mit den Jungs vom Spezialeinsatzkommando (SEK). In der DDR war der Top-Fahnder Chef der Leipziger Mordkommission. Seit 2012 ist er Polizeipräsident. Mit 2850 Beamten, davon 2500 im Vollzugsdienst, soll er für die Sicherheit von einer Million Menschen sorgen. Ein harter Job, mitunter lebensgefährlich. Mehrfach schlug Leipziger Polizisten eine Welle brutalster Gewalt entgegen. Linksextremisten bombardierten sie mit Pflastersteinen, Brandsätzen und Flaschen.

 

Neonazi-Jäger Merbitz (2009 ehrte ihn der Zentralrat der Juden mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage) wird seit Jahren angefeindet und mit dem Tod bedroht. Im FOCUS-Interview erklärt der Familienvater, der mit einer Polizistin verheiratet ist und zwei Töchter hat, wie tief ihn die Hasstiraden treffen und woher er die Kraft nimmt weiterzumachen. Von seinem Büro aus sieht Merbitz die Kirche St. Trinitatis. Hier betet der Katholik, der erst spät zum Glauben fand, fast täglich. Seinen Schreibtisch betrachtet er als notwendiges Übel. Er geht lieber auf die Straße, hört, was Leute bewegt, was ihnen stinkt.

 

Merbitz war mal Bezirksmeister im Judo. Sein aktuelles Kampfgewicht bei 1,81 Meter: 100 Kilo, zehn zu viel, wie er findet. Wenn er Zeit hat, geht er ins Fitness-Studio. Seine Armbanduhr zeigt an, wie viele Schritte er heute schon gelaufen ist (7578) und wie viele Kalorien er verbrannt hat (2032). Dass er ein Kämpfer ist und zugleich ein Anführer, steht sogar auf seinem Funkgerät. Merbitz’ Kennung lautet: „Löwe 1“.

 

Herr Merbitz, das Interview könnte für Sie unangenehm werden. Bereit?
Mich erschüttert nichts. Legen Sie los.

 

In Internet-Foren werden Sie als „Stasi-Merbitz“ tituliert, als „roter Bulle“ und einer „der schlimmsten Wendehälse“. Der „altgediente SED-Genosse“, schreiben die Leute, „muss weg“. Nehmen Sie die Anfeindungen wahr?
Ja, ich lese sie. Manchmal gebe ich bei Google meinen Namen ein, dazu Begriffe wie Leipzig und Legida. Dann kommt mir der ganze Dreck entgegen.

 

Was fühlen Sie dabei?
Es tut weh. Am Anfang habe ich einen regelrechten Hass auf die Schreiber gehabt. Aber ich weiß, aus welcher Ecke sie kommen. Seit vielen Jahren positioniere ich mich klar gegen Rechtsextremismus. Das passt vielen nicht. Sie verbreiten Unwahrheiten, wollen mich kaputtmachen. Aber ich lasse mir nicht den Mund verbieten.

 

Erhalten Sie Drohbriefe?
Jede Menge.

 

Können Sie einige vorlesen?
Die menschenverachtenden Formulierungen würde FOCUS niemals drucken.

 

Und die „harmloseren“ Stellen?
Also gut. Einer schrieb: „Hallo Bernie! Du angepisster Niggerschwanzlutscher . . . Kandidaten wie Du edle Türkensack-Ratte müssen in der Kläranlage oder in der Jauchegrube entsorgt werden.“ Ein anderer wünscht sich, dass ich bei einem Prozess „Nürnberg 2.0“ als Volksverräter zum Tode verurteilt werde. Und hier heißt es: „Gebt mir ein Gewehr, bringt mich 100 Meter an ihn ran, und die Sache ist erledigt!“

 

Bleiben wenigstens Ihre Frau und die Kinder von den Tiraden verschont?
Leider werden alle, die sich gegen rechts engagieren, früher oder später angefeindet und bedroht, das reicht bis ins soziale Umfeld. Auch meine Familie wurde schon massiv angegriffen. Auf einer rechten Internet-Seite hat man unsere Adresse und das Nummernschild des Autos veröffentlicht. Den Grund dafür muss ich Ihnen nicht erklären.

 

Hat Ihre Frau Sie nie gebeten, den Job aufzugeben?
Doch. Irgendwann sagte sie zu mir: „Haben wir nicht schon genug durchgemacht? Finden wir nicht irgendwann mal Ruhe? Denk doch auch mal an uns!“ Das war der Moment, in dem ich überlegt habe hinzuschmeißen.

 

Warum taten Sie es nicht?
Am nächsten Tag meinte meine Frau: „Bernd, du kannst nicht einfach aufhören. Was sollen die Leute von dir denken, denen du immer Mut machst und die deine Arbeit schätzen? Auch wenn du von allen Seiten Schläge kriegst – mach weiter, wir schaffen das!“

 

Warum äußern Sie sich zu politischen Themen?
Manche Kollegen und Freunde haben mir tatsächlich geraten, nichts mehr zu sagen, dann hätte ich meine Ruhe. Ich frage dann: „Warum darf ich meine Meinung nicht frei äußern? Warum soll ich schweigen, wenn Rechtsextreme Ausländer jagen, sie erniedrigen, ständig Hass schüren?“ Nein, ich werde solche Sachen auch in Zukunft anprangern.

 

Auch auf die Gefahr hin, weiter angepöbelt zu werden?
Das nehme ich in Kauf. Ich habe viele Bürgerversammlungen zum Thema Asyl besucht. Einmal wurde die Stimmung so aggressiv, dass mir meine Personenschützer rieten, den Hinterausgang zu benutzen. Ich sagte: „Ich gehe vorn raus! Ich habe mich hier nicht vom Hof zu schleichen. Wenn sich jemand vom Hof schleichen muss, dann die Leute, die gegen Flüchtlinge hetzen.“

 

Sie haben kürzlich gewarnt, bei uns mache sich eine Pogromstimmung breit . . .
Dazu stehe ich. Beim Wort Pogrom denken viele an die Judenverfolgung von 1938. Laut Duden steht es für „Ausschreitungen gegen nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten“. Mit nichts anderem haben wir es in Deutschland derzeit zu tun! Schon nach den Anschlägen von Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen haben wir von Pogromstimmung gesprochen. Heute ist es noch viel schlimmer!

 

Hat die Politik versagt?
Die Politik hätte anders auf Pegida reagieren und die Sorgen der Menschen in Bezug auf Flüchtlinge ernst nehmen müssen. Das hat man versäumt. Die Folgen sind jetzt zu sehen: Aus Furcht und Angst wurden Hass und Gewalt.

 

Haben Sie privat Kontakt zu Flüchtlingen?
Wir betreuen eine Familie aus Syrien, ein Ehepaar mit drei Kindern. Die haben im Krieg Angehörige und ihr Haus verloren. Wir haben ihnen Möbel für ihre Wohnung besorgt: Sofa, Tische, Stühle, Besteck. Für den 17-jährigen Sohn haben wir ein Fahrrad gekauft. Jetzt kümmern wir uns darum, dass er eine Lehrstelle bekommt.

 

Klingt so, als hätte die Familie großes Glück gehabt.
Ja, aber sie hat auch schon negative Erfahrungen gemacht.

 

Welche?
Der Sohn kam mit seinem neuen Fahrrad in eine Kontrolle. Die Polizisten bemängelten, dass die Lampe nicht funktionierte. Dann ließ ein Beamter die Luft aus den Reifen und nahm die Ventile mit, um eine Weiterfahrt zu verhindern. Tags darauf hieß es auf dem Polizeirevier Grimma lapidar, die Ventile seien weg.

 

Wie bitte?
Ich konnte das alles gar nicht glauben. Leider ist es aber wahr, und ich habe daher auch eine dienstrechtliche Prüfung veranlasst. Außerdem rief ich sofort den Revierleiter an und sagte: „Wenn so etwas noch einmal passiert, brennt die Luft.“ Ich bin noch immer stocksauer, weil das Handeln der Beamten auch mindestens den Anschein der Fremdenfeindlichkeit in sich trägt.

 

In der DDR haben Sie Karriere gemacht. Waren Sie bei der Stasi oder deren Polizei-Abteilung K1?
Nein. Gleich nach der Wende wurde ich vom Bundesamt für Verfassungsschutz überprüft. Ein Beamter kam zu mir nach Hause, ich empfing ihn mit dem Satz: „Das ist ja wie zu DDR-Zeiten, dass jemand guckt, wie jemand lebt.“ Ich war damals richtig erstaunt, was die alles über mich wussten. Am Ende fragte ich: „Und, bin ich tauglich?“ Er sagte lächelnd: „Ohne Einschränkung.“

 

Waren Sie ein überzeugter Anhänger des Sozialismus?
Wenn wir als junge Kerle zusammensaßen und am Himmel Flugzeuge sahen, dann haben wir uns gefragt, wo fliegen die eigentlich hin? Und immer kam der Gedanke: Paris sehen wir im Leben nie! Aber warum eigentlich nicht? Die Antwort war ganz einfach: Weil es so ist.

 

Sie haben sich mit dem System arrangiert?
Ich stehe zu meiner Biografie. Als Polizist war man Teil der Gesellschaft. Man musste in der SED sein, im Sportverein Dynamo und in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Das war obligatorisch. Auch für mich. Natürlich hätte ich es heute leichter, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre. Aber das ist nicht der Fall.

 


Kommen Sie aus einem politischen Elternhaus?

Mein Vater war Funktionär in der SED-Kreisleitung. Er glaubte fest an den Sozialismus. Als Jugendlicher hatte ich ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihm. Später änderte sich das. Er starb 1987 an Krebs, mit 57. An seinem letzten Abend hielt er meine Hand, atmete schwer, sagte: „Junge, pass auf dich auf, es läuft in diesem Staat nicht alles so, wie ich dir es immer erzählt habe.“ Bevor wir darüber reden konnten, schlief er ein.

 

Wollten Sie an den Verhältnissen nichts ändern?
Ich war kein Widerstandskämpfer. Aber ich habe immer offen meine Meinung gesagt, obwohl ich wusste, dass es mir nur Nachteile bringt. Auch in der Wendezeit. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ kritisierte ich, dass Polizeiarbeit in der DDR immer auch ideologisch geprägt war. Manche Verbrechen durfte es offiziell nicht geben, jedes Kriminalistik-Lehrbuch begann mit dem Bekenntnis zum Marxismus- Leninismus. Das bezeichnete ich in dem Interview als peinlich. Daraufhin wurde ich von meinen Vorgesetzten als „Nestbeschmutzer“ beschimpft. Man hätte mich am liebsten rausgeschmissen.

 

Sie haben sich mehrfach gewandelt – vom DDR-Major zum sächsischen Polizeichef, vom SED-Mitglied zum CDU-Politiker und zuletzt vom Atheisten zum Katholiken. Warum sind Sie in die Kirche eingetreten?
Als Chef der Mordkommission habe ich viel Leid gesehen. Mit Mitte 50 fragte ich mich: Was hast du den Menschen eigentlich ge-bracht? Antwort: den Tod. Der Umgang mit dem Thema war für mich immer ein Problem. Früher konnte ich mit niemandem darüber reden, schon gar nicht mit einem Pfarrer. Ich bin zwar evangelisch getauft, hatte aber nie eine Beziehung zur Kirche. Vor ein paar Jahren nahm meine Frau mich mit zum katholischen Gottesdienst.

 

Das hat Sie überzeugt?
Dort habe ich meine Erfüllung gefunden. Ich betrachte jetzt vieles anders. Ich habe gelernt, meinen Feinden zu vergeben. Das fiel mir früher sehr schwer. Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche. Oft auch in der Woche, vor Dienstbeginn. Ich genieße die Stille und denke über vieles nach. Nach dem Gebet geht es mir besser.

 

Sind Sie bibelfest?
Nein. Muss ich auch nicht sein. Wer ständig aus der Bibel zitiert, ist mir suspekt. Es kommt darauf an, seinen Glauben zu leben und sich an den Werten, die in der Bibel stehen, zu orientieren. Menschlichkeit, Anstand, Achtung voreinander. Ein Mensch bleibt immer ein Mensch, ganz gleich, welche Hautfarbe er hat.

 

Zu barmherzig sollten Sie aber nicht sein. Oder können Straftäter in Leipzig darauf hoffen, dass man sie mit größter Milde behandelt?
Wer gegen Gesetze verstößt, muss bestraft werden. In Leipzig haben wir es mit allen denkbaren Formen von Kriminalität zu tun – vom einfachen Diebstahl bis zu schweren Straftaten im Bereich politischer Extremismus.

 

Leipzig ist berüchtigt für seine brutale linksradikale Szene. Wie lange wollen Sie dem Treiben noch zuschauen?
Leipzig hat ein Gewaltproblem. Die Linken behaupten immer, von ihnen gehe eine „gute Gewalt“ aus. Ich sage ganz klar: Es gibt keine gute oder schlechte Gewalt. Gewalt ist Gewalt! Zumal sie sich längst nicht mehr nur gegen Sachen richtet, sondern gegen Personen, gegen uns. Die Uniform ist längst kein Schutzschild mehr, sie ist ein Zielscheibe.

 

Polizisten sind Freiwild?
Linke Chaoten betrachten Angriffe auf „Bullen-Schweine“ als legitim. Mehrfach kam es zu Gewaltexzessen gegen Polizeibeamte, zuletzt wurden sie von 1000 Linksextremisten attackiert. Die Täter beschossen sie mit Pflastersteinen und Molotowcocktails. Meine Leute befanden sich in einer reinen Abwehrschlacht, mussten um ihr Leben fürchten. Dabei haben sie nur ihren Job gemacht. Manchmal sitze ich im Büro und denke: Was tun wir unseren jungen Beamten eigentlich an?

 

Warum gehen Sie nicht härter gegen linksextremistische Verbrecher vor?
Die Ermittlungen in dieser Szene gestalten sich sehr kompliziert. Die Gruppen schotten sich konsequent ab, sind gut organisiert und tauchen aus dem Nichts auf. Gegen die Guerilla-Taktik kommt man nur schwer an. Aber wir haben uns auf die Bedingungen eingestellt und tun alles, um das Problem in den Griff zu kriegen.

 

Werden Sie dabei von der Politik unterstützt?
Ich habe immer eine öffentliche Debatte zu gewaltbereiten Linksextremisten verlangt. Aber die Politik wollte davon nichts wissen. Das ändert sich langsam. Mittlerweile sagen viele: Ja, wir haben ein Problem mit Gewalt. Von rechts und links. Dieses Eingeständnis ist ein großer Fortschritt. Die Politik hat begriffen: So wie es in Leipzig bisher war, kann es nicht weitergehen. Auch der Oberbürgermeister ist der Meinung, dass wir mehr Polizisten brauchen.

 

Experten fordern 1000 zusätzliche Beamte in Sachsen. Welchen Bedarf melden Sie für Leipzig an?
Ich nenne hier keine Zahlen. Fakt ist, dass ich mehr Polizisten auf der Straße haben will. Schutzpolizei, Streifendienst, Bereitschaftspolizei, das sind die entscheidenden Bereiche. Wir dürfen nicht nur mit Blaulicht an den Menschen vorbeifahren. Wir müssen nah an ihnen dran sein.

 

Sie tragen stets Uniform. Warum?
Ich muss mich vor niemandem verstecken. Und ich trage meine Uniform mit Stolz. Als Polizeipräsident könnte ich auch mit Anzug und Krawatte ins Büro gehen. Aber das will ich nicht.

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