Interpol-Chef Jürgen Stock kämpft mit 830 Fahndern gegen internationale Verbrecherbanden und Terroristen. Wie tickt der Top-Beamte? Ein FOCUS-Porträt
Der Mann ist nicht zu fassen. Ständig unterwegs. Heute Washington, morgen Tunis, übermorgen Canberra. Alle paar Tage ein neuer Kontinent. Vielfliegerstatus bei fünf Airlines. Sein Zuhause ist die Business Class. Der ideale Ort, um in Ruhe Akten zu lesen und den neuesten Bond zu sehen. Zum Dinner: am liebsten Fisch. Er düst mit Handgepäck um die Welt. So entgeht er der Gefahr, dass sein Koffer nicht mitkommt. Einen frischen Anzug hat der Globetrotter immer dabei, das Umziehen auf der Bordtoilette x-fach geübt. Er kann nicht zerknittert die Gangway runterstolpern. An Flughäfen, wo er Diplomatenstatus genießt, erwarten ihn Chauffeure und Fotografen. Auf Konferenzen trifft er US-Präsident Obama und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. Jürgen Stock ist Papst. Polizei-Papst. Gewählt im November 2014. Offizielle Amtsbezeichnung des 56-jährigen Deutschen, der seine Karriere als Drogenfahnder in Hessen startete und zehn Jahre Vizechef des Bundeskriminalamts (BKA) war: Generalsekretär der International Criminal Police Organization, kurz Interpol.
„Wir sind das globale polizeiliche Netzwerk gegen die globalen Netzwerke der organisierten Kriminalität und des Terrorismus“, sagt Stock, der gerade unruhige Wochen erlebt. Eigentlich hat er keine Zeit für Journalisten. Beim FOCUS macht er eine Ausnahme: zwei Treffen in Frankreich und Singapur, den wichtigsten Standorten der Behörde.
Die verspiegelte Interpol-Zentrale in Lyon ist eine Trutzburg. Massive Stahlgitter, Elektrozäune, Videokameras, Poller, bewaffnete Wachen. Von außen wirkt die Festung quadratisch. Erst im Inneren erkennt man, dass sie wie ein Achteck aufgebaut ist, Sinnbild für Vollkommenheit. Durch das transparente Dach fällt Sonnenlicht in den Innenhof, wo Stock, 1,83 Meter groß, schmal, leichte Ray-Ban-Brille, kurze graue Haare, gerade mit seinem abhörsicheren Handy telefoniert. Er steht auf einem Mosaik, dessen weiß-blaue Steine das Interpol-Emblem bilden: eine von Olivenzweigen umrankte Welt-kugel, Schwert, Waage – Symbole für Frieden, Polizei, Gerechtigkeit. Im gläsernen Aufzug geht es hinauf in die fünfte Etage. Am Ende eines schmalen Gangs liegt Zimmer 5.01. Stocks Büro. Mittelgroß, eher uncharmant. Dafür mit coolem Ausblick. Unten glitzert die Rhûne. Der Schreibtisch wirkt aufgeräumt. Stifte, Aktenmappen, Wasser, der „Economist“, ausgedruckte E-Mails. Stock gehört zu jener aussterbenden Spezies, die lieber ein Stück Papier in den Händen hält, als mit dem Finger über Bildschirme zu wischen.
Entspannt auf dem Ledersofa sitzend, spricht der aus Wetzlar stammende Mann über seinen Job. Der Chef von 830 Mitarbeitern aus 100 Ländern betont, wie großartig Interpol sei, nicht nur wegen der Kantine, wo ein exquisites Rumpsteak in Pfeffersauce läppische 2,83 Euro kostet. Fast jeder kenne „die weltberühmte Marke Interpol“, aber die wenigsten wüssten, was sich dahinter verberge. „Viele glauben, wir seien Agenten, die Straftäter um den Erdball jagen.“ Ein Klischee aus Krimis. Die Organisation ermittelt nicht selbst, nimmt niemanden fest. Sie koordiniert internationale Operationen gegen Drogenhandel, illegale Fischerei, Kinderzwangsarbeit oder das Abschlachten bedrohter Tierarten. Hauptaufgabe der Behörde ist es, den Datenfluss zwischen ihren 190 Mitgliedsstaaten zu regeln und deren Fahndungsaufrufe zu verbreiten. In jedem Land hat Interpol ein nationales „Zentralbüro“, in Deutschland ist es das BKA. Alle Einheiten sind über ein verschlüsseltes Kommunikationssystem miteinander verbunden und können sich blitzschnell austauschen. Im besten Fall führt das dazu, dass Verbrecher aufgespürt werden, die man durch nationale oder europäische Ermittlungen wohl nie gefasst hätte.
Interpol verfügt über 17 Datenbanken. Dort können Mitgliedsländer Informationen einspeisen und abrufen. Gesammelt werden Erkenntnisse zu weltweit gestohlenen Reisepässen, geklauten Autos, geraubten Kunstwerken. Man findet DNA-Profile und Fingerabdrücke von flüchtigen Gewalttätern ebenso wie die Personalien von Terroristen. „In dieser Dimension“, meint Stock, „können nur wir so etwas bieten.“ In solchen Momenten klingt er wie ein Staubsaugervertreter. Er sagt Sätze wie „Das ist unsere Stärke“ und „Das zeichnet uns aus“. Oder: „Interpol ist im Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität unverzichtbar.“
Wenn Interpol wirklich so toll ist – warum wird die Welt dann immer unsicherer? Warum konnten islamistische Terroristen seit Mai 2014 in der Europäischen Union sechs Anschläge verüben? Ist Interpol am Ende doch nur einer von vielen Datensammlern, die uns im Zweifel nicht vor fanatisierten Mörderbanden schützen können? „Wie sich Kriminalität und terroristische Gefährdungslagen entwickeln, hängt nicht nur von der Polizeiarbeit ab“, antwortet Stock. Politische Umstürze, soziale Unruhen, ethnische und religiöse Konflikte – alles könne sich auf die weltweite Sicherheit auswirken. Dass es auch hausgemachte Probleme gibt, verpackt er in ein Statement aus dem Handbuch für PR-Profis: „Natürlich versuchen wir, immer besser zu werden.“ Unverdrossen wirbt Stock bei den Mitgliedsländern darum, dass sie ihre Daten intensiver austauschen. Allzu oft scheitert dies an rechtlichen und kulturellen Problemen oder, ganz banal, am Misstrauen. Stock will das ändern. Und er möchte erreichen, dass die bei Interpol gespeicherten Daten „an den richtigen Stellen verfügbar sind und genutzt werden“.
Ein Beispiel, bei dem das System versagte: Im April 2014 stellte Interpol 1500 in Syrien gestohlene Blanko-Pässe in die Datei „Stolen and Lost Travel Documents“ ein. Einen dieser Pässe fanden Er-mittler nach den Anschlägen am 13. November 2015 in Paris am Stade de France – neben einem Attentäter. Der Terrorist hatte den Pass benutzt, um sich auf einer griechischen Insel als Flüchtling registrieren zu lassen. Hätte man die Passnummer bei Interpol abgeglichen, wäre der Mann möglicherweise aufgefallen. „Ob man ihn an der Einreise nach Europa gehindert hätte, bleibt Spekulation“, so Stock. „Aber die Behörden wären sensibilisiert gewesen und hätten weiter ermitteln können.“
Der Eintracht-Frankfurt-Fan saß am Tag des Blutbads zufällig im Stadion und schaute das Spiel Frankreich – Deutschland. Aus dem privaten Vergnügen wurde eine eilige Dienstsache. „Ich war schnell im Bild, dass ein komplexer Anschlag läuft.“ In den folgenden Tagen hetzte er von Termin zu Termin. Stock und seine Leute fütterten die Terrorfahnder mit Infos aus ihren Computern. Nicht nur das Thema Datenaustausch macht Interpol zu schaffen. Mehrfach geriet die Behörde in die Kritik, weil sie sich angeblich von totalitären Staaten missbrauchen lasse. Hintergrund: Interpol verteilt weltweit Fahndungsaufrufe von Mitgliedsländern. In den „Red Notices“ bitten die Staaten um Hilfe bei der Festnahme und Auslieferung von Kriminellen, die ins Ausland geflüchtet sind. Aktuell stehen die Namen von 42 600 Personen auf der Liste, darunter 247 Deutsche. Vergangenes Jahr wurden 2777 Verbrecher verhaftet, die über Interpol gesucht wurden.
Menschenrechtler fanden heraus, dass einige Regime politische Gegner unter Vorwänden auf die Liste setzen und von Interpol aufspüren lassen. Stock räumt ein, dass „ein bis drei Prozent“ aller Fahndungen strittig seien. „Natürlich ist jeder Fall einer zu viel.“ Er erklärt, Interpol verfeinere ständig seine Prüfmechanismen. Prinzipiell gelte, dass man niemanden verfolge, der aus politischen, rassistischen, religiösen oder militärischen Gründen gesucht werde. Auch in puncto Finanzen steht Interpol unter Rechtfertigungsdruck. 2015 warb die Behörde 6,8 Millionen Euro bei privaten Spendern ein. Das waren acht Prozent des Jahresetats von 80 Millionen Euro. 65 Prozent zahlten die Mitgliedsstaaten, allein Deutschland steuerte 4,4 Millionen Euro bei.
Grundsätzlich findet es Stock nicht anrüchig, sich von Konzernen sponsern zu lassen. Aber: „Wir dürfen nicht zulassen, dass jemand durch Spenden Einfluss auf unsere Arbeit nehmen will.“ Was die Fifa 2011 im Schilde führte, als sie Interpol 20 Millionen Euro zusprach, kann man nur mutmaßen. Offiziell unterstützte sie damit eine von der Weltpolizei geleitete Kampagne gegen Bestechlichkeit im Fußball. Vier Jahre später wurden reihenweise Fifa-Manager unter Korruptionsverdacht festgenommen oder per Haftbefehl gesucht. Über Interpol. Der promovierte Jurist Stock zog die Reißleine. „Wir haben die Zusammenarbeit mit der Fifa gestoppt.“ Das noch nicht verbrauchte Geld, zwei Millionen Euro, gab Interpol zurück. Zugleich stellte man neue Regeln auf. Sponsoren aus den Bereichen Tabak, Alkohol, Waffen, Sex und Glücksspiel sind künftig tabu.
Dafür gewann man einen neuen Mäzen: Der Stadtstaat Singapur überließ Interpol ein Grundstück in Bestlage und setzte ein hypermodernes Gebäude darauf. Es hat die Form einer aus dem Boden schwappenden Riesenwelle, silberblaumetallic, sechs Etagen, Hightech-Ausstattung. Interpol musste für die 2014 bezogene Immobilie keinen Cent zahlen. Im „Global Complex for Innovation“ tüfteln 100 Mitarbeiter an neuen Strategien gegen IT-Straftaten. „Cybercrime ist eine der größten Herausforderungen für die Polizei weltweit“, so Stock. Die Fahnder brauchten dringend Mittel, mit denen sie verschlüsselte Daten knacken und digitale Beweismittel auslesen könnten. „Genau daran arbeiten wir hier.“ Stock läuft durch die Lobby. Sein Job, sagt er, sei für ihn „erfüllend“. Er könne „in einem weltweiten Team etwas gestalten“. Angesichts der vielen Krisen und Konflikte gebe es für ihn „noch viel zu tun“. Im nächsten Moment zieht er sein Blackberry aus dem Jackett. Eilmeldung: „Terroranschlag in Nigeria, über 20 Tote“. Stock muss los. Schnell. Die Arbeit ruft.