Trotz guter Sicherung konnten seit dem Jahr 2000 mehr als 400 Straftäter aus Psycho-Kliniken fliehen
Es grenzt an ein Wunder, dass die Einrichtung noch in keinem Schwarzbuch für Steuerverschwendungen aufgetaucht ist. Etwa 760000 Euro gab der Freistaat Sachsen in den vergangenen sechs Jahren aus, um die Psychiatrieklinik in Großschweidnitz halbwegs ausbruchssicher zu machen. Angeschafft wurden Überwachungsanlagen, Fenstergitter und neue Zäune. Sinnvoller (und billiger) freilich wäre der Einbau einer Drehtür gewesen, durch welche Patienten das Anstaltsgelände problemlos verlassen können. Der Effekt wäre derselbe gewesen.
Mehr als 60 Straftäter, allesamt psychisch krank, drogen- oder alkoholsüchtig, sind seit 2002 in Großschweidnitz ausgebrochen oder haben Lockerungen für Abstecher in die Freiheit genutzt. Damit entfallen knapp zwei Drittel aller Absetzaktionen aus dem sächsischen Maßregelvollzug auf das Krankenhaus (48 Betten) zwischen Bautzen und Görlitz. Der vorerst letzte Abgänger wählte aus dem mannigfaltigen Schlupflochangebot das komfortabelste: Tino M. setzte sich ins Auto des Klinikleiters und düste vom Hof.
Solch paradiesische Zustände finden Kriminelle gottlob nicht überall. Viele der bundesweit 74 Einrichtungen, in denen seelisch kranke Rechtsbrecher behandelt werden, wurden in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet. Ausgefeilte Schleusensysteme, Bewegungsmelder und Videowachen gehören heute zum Standard. Einige Häuser verfügen über extrem stabile Fenster (vier Zentimeter dickes Glas, aufbruchsichere Stahlrahmen) sowie Spezialzäune. Deren sichtbarer Teil ist 5,30 Meter hoch, der unsichtbare steckt einen halben Meter tief in der Erde. Er soll verhindern, dass Insassen sich maulwurfartig nach außen buddeln. Auch sogenannte Herzschlagdetektoren kommen immer öfter zum Einsatz. Die hypersensiblen Geräte spüren Flüchtlinge auf, die sich in einem Lieferwagen oder im Müllauto versteckt halten.
Beruhigender Effekt der Sicherheitsoffensive: Die Zahl der unerlaubten Patientenausflüge — im Behördendeutsch „Entweichungen“ genannt — geht stetig zurück. Nach FOCUS-Recherchen registrierten die Sozialministerien der Länder zwischen 2000 und 2007 bundesweit 3656 Fälle von entfleuchten Maßregelinsassen. 416 davon waren klassische Ausbrüche. Der Rest erfasst jene Patienten, die ihre gelockerten Vollzugsbedingungen zu mehr oder weniger ausgedehnten Exkursionen ins zwanglose Leben nutzten. Im vergangenen Jahr erreichte die Zahl der Entweichungen mit knapp 390 Fällen einen neuen Tiefstand. Eine offizielle Statistik zum Thema Ausbrüche und Lockerungsmissbrauch im Maßregelvollzug existiert nicht. Manche Ministerien hüten ihre intern erhobenen und nun von FOCUS erstmals veröffentlichten Daten wie Staatsgeheimnisse — aus Angst, im Vergleich mit anderen schlecht abzuschneiden. In der Tat ist die Angelegenheit diffizil, denn die Länder entscheiden selbst, welchen Vorfall sie wie einstufen.
Während die meisten Kliniken schon von einer Entweichung sprechen, wenn ein Patient fünf Minuten zu spät vom Freigang zurückkehrt, gilt in Schleswig-Holstein eine Stunde „Toleranzfrist“. Erst danach findet der Verstoß Eingang in die Akten. In Berlin sieht man den Missbrauch von Lockerungen noch entspannter; als Entweichung zählt nur die „Flucht aus abgeschlossenen Bereichen“. Nach dieser Lesart kam es von 2000 bis 2007 im Berliner Maßregelvollzug zu lediglich acht Entweichungen. Hätte man nach den üblichen Kriterien gezählt, wären auch die 243 Lockerungsverstöße aus dem gleichen Zeitraum in die Bilanz eingeflossen. So aber steht Berlin glänzend da.
Die Zahl der Fluchtdelikte dürfte — rein statistisch gesehen — kaum jemanden beunruhigen. Gemessen an den bundesweit 10520 Maßregelpatienten sind die 388 Entweichungen im vergangenen Jahr nicht der Rede wert. In Bayern gewährten die Leiter der 14 Maßregelvollzugseinrichtungen rund 300000-mal die höchste Lockerungsstufe. In 99,98 Prozent der Fälle kehrten die Patienten brav zurück. Das Thema Verbrechertherapie versetzt dennoch viele Menschen in Angst. Allein die Ankündigung, neue Kliniken zu bauen, löst regelmäßig massive Proteste aus. Besonders aufgeheizt war die Stimmung Mitte der 90er-Jahre, als frisch entlassene, angeblich genesene Psycho-Täter erneut zuschlugen. 1998 reagierte die Politik und änderte das Gesetz. Seither darf ein Maßregelpatient erst dann entlassen werden, wenn „zu erwarten“ ist, dass er „keine rechtswidrige Tat mehr begehen wird“. Zuvor mussten die Ärzte lediglich verantworten, dies „zu erproben“.
Die Verschärfung der Entlassungsregeln führte nicht automatisch zu einem besseren Schutz der Bevölkerung. Denn die neue Strenge hat zur Folge, dass immer mehr Kriminelle immer länger in der Psychiatrie sitzen. Einige Therapie-Einrichtungen werden der Patientenmassen kaum mehr Herr; die permanente Überbelegung stellt ein neues Sicherheitsrisiko dar. Zählten die Fachkliniken 1997 in den alten Ländern einschließlich Berlin 4579 Patienten, waren es zehn Jahre später mit 8664 fast doppelt so viele.
Um die Gefahr von Meutereien und Ausbrüchen klein zu halten, pumpt der Staat erhebliche Mittel in den Aus- und Neubau forensischer Einrichtungen. Mehr als 675 Millionen Euro haben die Länder nach FOCUS-Recherchen seit 2003 in den Maßregelvollzug investiert. An der Spitze steht Nordrhein-Westfalen (201 Millionen Euro), gefolgt von Bayern (99,2 Millionen) und Thüringen (68,4 Millionen). Der Trend setzt sich fort. Allein in NRW werden derzeit fünf moderne Forensikkliniken gebaut. Auch in der Fluchthochburg Großschweidnitz sollen es Patienten, die sich heimlich vom Acker machen wollen, künftig schwerer haben. Neben der alten Klinik entsteht gerade ein neuer Komplex für 18,5 Millionen Euro. Ab 2009 werden dort 66 Rechtsbrecher therapiert. Die Sicherheitsstandards, verkündet das sächsische Sozialministerium, seien „auf höchstem Niveau“.