Göran Schattauer | Genetischer Zwitter
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Erstmals fanden Rechtsmediziner eine Leiche mit zwei DNA-Profilen. Der bizarre Fall dürfte für die Verbrecherjagd sehr bedeutsam sein

 

Sie hatten es mit dem legendären Findelkind Kaspar Hauser und Hitlers Sekretär Martin Bormann zu tun. Zu ihren „Kunden“ zählte der erdrosselte Modeschöpfer Rudolph Moshammer ebenso wie der erschlagene Schauspieler Walter Sedlmayr. Zuletzt beschäftigte die DNA-Spezialisten des Münchner Instituts für Rechtsmedizin der Mord an der berühmten Parkhaus-Millionärin Charlotte Böhringer.

 

Angesichts solch schillernder Fälle versprach Auftrag Nummer 08/2612 wenig Spektakuläres. Es ging um die Identifizierung einer unbekannten Leiche — für die bayerischen Erbgut-Experten reine Routine. Dass ihre Untersuchung zu einem bizarren, in Deutschland bisher wohl einmaligen Ergebnis führen würde, konnte damals keiner ahnen.

 

Es begann am 6. Februar 2008. Ein Polizist erschien im Institut und gab zwei Wattestäbchen ab, an denen das Blut einer Leiche klebte. Die menschlichen Überreste waren, verstreut über 300 Meter, an der S-Bahn-Strecke zwischen München und Fürstenfeldbruck aufgesammelt worden. Klar schien: Jemand hatte sich vor einen Zug geworfen. Blieb die Frage: wer? Der Leichnam war unkenntlich, Papiere fehlten. Alles deutete auf Walter W. hin. Kollegen hatten den Bauarbeiter als vermisst gemeldet, in seiner Wohnung fanden Polizisten einen Abschiedsbrief. Aus dem Badezimmer nahmen die Beamten einen Rasierapparat mit. Daran befindliche DNA-Spuren sollten die Rechtsmediziner nun mit den blutigen Abrieben des Toten vergleichen.

 

Birgit Bayer, im Labor zuständig für die Bearbeitung von Kapitalverbrechen und Identifizierungen, sah der Aufgabe gelassen entgegen. Die medizinisch-technische Assistentin hat bereits an die 100000 DNA-Analysen durchgeführt und gilt als sehr erfahren. Der S-Bahn-Suizid freilich stellte die 46-Jährige vor ein Rätsel: Die aus dem Leichenblut isolierte DNA gehörte zweifelsfrei einer Frau. Der Zugführer allerdings beteuerte, ein Mann habe sich unter die Räder geworfen. Irrte der Fahrer? Hatte er vielleicht übersehen, dass sich zwei Menschen umbrachten, Frau und Mann?

 

„Zunächst glaubten wir, dass es sich um den Doppel-Suizid eines unglücklichen Liebespaars handeln könnte“, sagt Katja Anslinger, 38, Leiterin des Fachbereichs forensische Molekularbiologie. Für diese These sprachen auch die Spuren am Nassrasierer. An der Klinge ließen sich sowohl männliche als auch weibliche DNA-Fragmente nachweisen. „Wir hielten es für denkbar, dass beide den gleichen Rasierapparat benutzt hatten“, so Anslinger.

 

Da die Fakten jedoch gegen einen Doppel-Suizid sprachen, mussten die DNA-Spuren von einer einzigen Person stammen. Das wiederum bedeutete: Wer auch immer sich da umgebracht hatte, er trug zwei unterschiedliche DNA-Muster in sich — das einer Frau und das eines Mannes. „So etwas war uns noch nie untergekommen“, berichtet Molekularbiologin Anslinger.

 

Die Entdeckung widersprach der millionenfach bewiesenen Annahme, dass jeder Mensch über einen einzigartigen genetischen Fingerabdruck verfügt. Außer bei eineiigen Zwillingen, die sich dieselben Erbanlagen teilen, lässt sich jedem Menschen exakt ein DNA-Muster zuordnen. Der unbekannte Tote von München indes besaß zwei genetische Identitäten. Erbgut-Analystin Birgit Bayer: „Dafür gab es nur eine Erklärung. Es musste sich um einen Mann handeln, dem Knochenmark einer Frau eingepflanzt worden war.“

 

Ein Anruf bei Angehörigen des vermissten Walter W. bestätigte dies: Eine Frau hatte dem Mann vor Jahren Knochenmark gespendet. Nach der Transplantation wiesen dessen Blutzellen die DNA-Merkmale der Spenderin auf. Das Muster der Frau fand sich folglich an den blutigen Wattestäbchen, die den Rechtsmedizinern zur Analyse vorlagen.

 

In allen anderen Körperzellen — von der Mundschleimhaut über Spermien, Haare und Zähne bis hin zu den Hautschuppen — blieb das ursprüngliche DNA-Muster des Mannes erhalten. Das erklärt auch die Mischspuren am Bartschneider. „An der Klinge konnten wir sowohl männliche Hautpartikel als auch weibliche Blutspuren nachweisen. Offenbar hatte er sich beim Rasieren einmal geschnitten“, so Bayer.

 

So obskur der Fall auch anmuten mag, ihn als Kuriosum abzutun wäre ein Fehler. Biologen und Mediziner kennen das Phänomen der Doppel-DNA seit Langem. Besteht ein Individuum aus genetisch unterschiedlichen Zellen, sprechen sie — in Anlehnung an das Mischwesen aus der griechischen Mythologie — von einer Chimäre.

 

Patienten, denen erfolgreich Knochenmark eines anderen transplantiert wurde, weisen einen solchen Chimärismus auf. Anders sieht es bei Organverpflanzungen aus. Hier besitzt nur das transplantierte Organ die Merkmale des Spenders. Auch bei Bluttransfusionen ist die dauerhafte Übertragung von DNA ausgeschlossen: Die Zellen des Spenders vermehren sich nicht und gehen mit der Zeit verloren.

 

Bei der Identifizierung von Toten oder der Aufklärung von Verbrechen per Genanalyse spielte das Thema Knochenmarktransplantation bislang allenfalls eine theoretische Rolle. Die Praxis hielt kein Beispiel parat, unter Kriminalisten waren die Auswirkungen des medizinischen Eingriffs weithin unbekannt. Nach dem brisanten Fund von München dürfte sich das ändern.

 

Immerhin ist folgendes Szenario denkbar: Neben einem Mordopfer finden sich Blutspuren des mutmaßlichen Täters. Aus den Blutzellen wird ein DNA-Profil erstellt. Nach der Recherche in den polizeilichen Datenbanken oder einem Massen-Gentest könnte der Verdacht auf einen Unschuldigen fallen: jene Person, die dem tatsächlichen Täter Knochenmark gespendet hatte.

 

Der Mörder indes könnte leicht durch das Fahndungsraster fallen. Etwa wenn er zum Speicheltest muss. Das DNA-Muster seiner Mundschleimhaut (körpereigene Zellen) würde sich vom DNA-Muster des Tatort-Bluts (Zellen des Spenders) unterscheiden. Der Verdacht gegen den Mann hätte sich zerschlagen — es sei denn, die Fahnder wüssten, dass er irgendwann eine Knochenmarkspende erhalten hat. Bislang prüfen Polizisten diese Option in der Regel nicht.

 

Der mysteriöse S-Bahn-Suizid zeigt, wie entscheidend sich eine solche Operation auf forensische DNA-Analysen auswirkt. Katja Anslinger von der Münchner Rechtsmedizin: „Der Fall sollte Fahnder und Untersuchungsbehörden sensibilisieren, Genspuren noch kritischer zu hinterfragen.“ Von dem Grundsatz, dass jeder Mensch über ein einzigartiges, unverwechselbares DNA-Profil verfügt, können sich die Ermittler auch in Zukunft leiten lassen. Auf Ausnahmen sollten sie dennoch gefasst sein. Allein in Deutschland wurden seit 1998 mehr als 17600 Knochenmarktransplantationen erfolgreich durchgeführt.

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