Der Täter war verwundet, ohne Waffe und scheinbar erledigt. Er entkam der Polizei – und mordete weiter
Die letzten Sekunden im Leben des Tim Kretschmer sind dokumentiert. Mit einer Handy-Kamera filmte ein Zeuge, wie der dunkel gekleidete 17-Jährige auf dem Parkplatz eines Industriegebiets in Wendlingen-Wert auf und ab läuft, zu Boden sinkt – und sich erschießt. Was die Kamera nicht einfing, sind die Minuten vor dem Suizid. Jene Momente, in denen Kretschmer das Autohaus betrat, zwei Männer ermordete und zwei Polizisten schwer verletzte. Gäbe es die Sequenzen, würden sie bei der Aufklärung der Amoktat eine zentrale Rolle spielen. Sie würden eine Episode des Verbrechens bezeugen, die von den Behörden bislang geheim gehalten wird – wahrscheinlich auch deshalb, weil man sie als folgenschwere Polizeipanne deuten muss.
Es geht um eine fatale Szene vor dem Autohaus Hahn. Eine Szene, in der sich Kretschmer und ein Polizist gegenüberstanden. Für wenige Augenblicke ergab sich die realistische Chance, den Killer zu stoppen. Es schien sogar möglich, ihn lebend zu fassen.
Über das Blutbad von Winnenden und Wendlingen ist vieles gesendet und geschrieben worden. Manches erwies sich als unwahr, anderes schien zweifelsfrei festzustehen. Dazu gehörte auch der Tathergang vom 11. März. Im Kern schilderten die Strafverfolger den Ablauf so: Nachdem Kretschmer in Winnenden insgesamt 13 Menschen umgebracht hatte, flüchtete er mit einer Geisel ins 40 Kilometer entfernte Wendlingen. Dort stürmte der Amokschütze ein Autohaus und erschoss zwei Männer: den Verkäufer Denis P. und den Kunden Sigurt W. Anschließend, so die bisher bekannte Version, verließ Kretschmer das Autohaus. Dabei traf er auf einen Polizisten und wurde bei der folgenden Schießerei verletzt. Er flüchtete zurück ins Geschäft und schoss durch eine Scheibe auf seine Verfolger. Schließlich lief der Amoktäter auf den Parkplatz und richtete sich selbst. Diese Darstellung klingt plausibel. Sie hat nur einen Haken. Sie ist höchstwahrscheinlich falsch.
Nach FOCUS-Informationen verliefen die letzten Minuten des Amoklaufs anders. Der Schusswechsel mit dem Polizisten aus Wendlingen fand nicht statt, nachdem Kretschmer die beiden Männer im Autohaus ermordet hatte. Zu der Konfrontation war es einige Minuten zuvor gekommen – zu einem Zeitpunkt, da der Amokläufer noch auf dem Weg zum Autohaus war. Damit nicht genug. Die Polizisten hatten Kretschmer schon so gut wie überwältigt. Doch der Killer, der an den Beinen verletzt war und seine Waffe, eine Beretta 92, bereits abgelegt hatte, konnte entkommen.
Die brisanten Erkenntnisse stammen von Beamten um Kriminaloberrat Michael Gerg aus Esslingen. Gerg leitet die Recherchen zum Tatkomplex „Wendlingen“. Die übergeordnete Ermittlungsgruppe trägt den Namen „Schule“. Während wichtige Fragen zu den Motiven und den Planungen des Täters noch immer nicht vollständig beantwortet sind, kann Gergs Mannschaft das Geschehen von Wendlingen einigermaßen genau rekonstruieren.
Kretschmer kaperte in Winnenden einen grünen VW Sharan und nahm den Fahrer Igor Wolf als Geisel. Nach einer Irrfahrt über Stuttgart, Tübingen und Nürtingen kamen sie auf der Bundesstraße 313 nach Wendlingen. In der Auffahrt zur Autobahn 8 Richtung Stuttgart setzte Wolf das Auto absichtlich in den Graben. Er riss die Tür auf und rannte zu einem an der Auffahrt postierten Streifenwagen. Sein Kidnapper lief in das nahe gelegene Gewerbegebiet. Noch bevor er den Haupteingang der Firma Hahn Automobile betrat, wurden Polizisten auf ihn aufmerksam. Als sie aus dem Auto stiegen, um seine Personalien zu kontrollieren, eröffnete Kretschmer das Feuer. Zwischen ihm und dem Streifenwagen lagen etwa 50 Meter. Ein 52 Jahre alter Beamter schoss zurück – und traf den Killer zweimal. In das Sprunggelenk des linken Fußes und in die rechte Wade.
Was sich nach dem Duell abspielte, beschreiben die Ermittler in einem FOCUS vorliegenden Bericht so:
„Nach diesen Treffern sank der Täter zusammen und setzte sich auf den Boden. Nach Aufforderung legte er seine Waffe neben sich auf der Straße ab und hob die Hände über den Kopf. Daraufhin verließ der Polizeibeamte seine Deckung und ging mit der Waffe im Anschlag einige Meter in Richtung des Täters.“
Sie hatten ihn also. Kretschmer saß in der Falle. Angeschossen, ohne Waffe und scheinbar kampfunfähig. Es sah so aus, als würde er kapitulieren. Der Polizist lief auf ihn zu. Er war noch 30, maximal 40 Meter von dem Amokläufer entfernt. Er hatte ihn fest im Visier.
„In dem Moment nahm der Täter seine Waffe wieder auf und schoss erneut auf den Polizeibeamten, stand auf und flüchtete zum Haupteingang der Firma Hahn. Der Beamte versuchte durch weitere Schussabgaben ein Flüchten des Täters zu verhindern. Trotzdem konnte dieser in das direkt angrenzende Autohaus gelangen.“
Kretschmer war entwischt. Trotz seiner Verletzung. Dass der Verbrecher sich noch einmal aufbäumen und zurückschlagen würde, muss seinen Jäger überrascht haben. Jedenfalls schaffte er es nicht, ihn zu stoppen. Im Autohaus tötete Kretschmer zwei Männer. Als ein Streifenwagen des Polizeireviers Nürtingen vor dem Haupteingang eintraf, gab Kretschmer zwölf Schüsse durch das Schaufenster ab, anschließend flüchtete er über den Hinterausgang auf einen Firmenparkplatz. Das Gelände hatten Polizisten abgesperrt.
„Aus dem Bereich Parkplatz Ritter Aluminium schoss der Täter auf ein vorbeifahrendes Zivilfahrzeug (aufgesetztes Blaulicht) des Polizeireviers Filderstadt und verletzte zwei Polizeibeamte schwer. Weitere Schüsse wurden in Richtung der Firma Ritter Aluminium abgegeben, als ein Beschäftigter die Tür verschließen wollte. In dieser Situation wurden fünf Schüsse aus einer MP auf den Täter abgefeuert, wobei dieser nicht getroffen wurde.“
Den letzten Schuss des Tages hat ein Mitarbeiter der Firma Ritter Aluminium für die Nachwelt festgehalten: Kretschmer ging zu Boden und schoss sich in die Stirn. Die Polizei fand am Tatort 46 abgefeuerte Hülsen Tätermunition sowie 13 Hülsen Polizeimunition. 156 Patronen trug Kretschmer noch bei sich.
Die Autoren nennen ihren Bericht „vorläufig“. Unter anderem, weil der Funkverkehr und die Bilder der Polizeihubschrauber noch nicht komplett ausgewertet sind. Auch stehen einige kriminaltechnische Untersuchungen noch aus, eventuell müssen Zeugen erneut gehört werden. In Wahrheit sind die Ermittler jedoch davon überzeugt,
“…, dass der Täter nach dem Schusswechsel mit der Polizei, an beiden Beinen verletzt, das Gebäude der Firma ’VW Hahn’ betreten hat und dort dann die beiden Personen erschossen hat.“
Sollte es sich tatsächlich so zugetragen haben, würde der bislang als „vorbildlich“ hingestellte Polizeieinsatz in einem neuen Licht erscheinen. Und es würden Fragen aufkommen: Warumhat der Polizist, der mit dem Finger am Abzug auf Kretschmer zulief, dessen Flucht ins Autohaus nicht verhindern können? Warum setzte der Beamte dem Amokläufer nicht sofort und bedingungslos nach, so wie es seine Kollegen am Morgen in der Schule getan hatten? Führte der missratene Zugriff in letzter Konsequenz dazu, dass drei weitere Menschen sterben mussten (einschließlich des Täters) und zwei Polizisten beinahe ihr Leben verloren? Warum wird der Öffentlichkeit der wahre Ablauf des Geschehens verschwiegen?
Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech (CDU) hat stets betont, der Polizeieinsatz sei korrekt verlaufen. Über die neuen Befunde seiner Ermittler verlor er bis heute kein Wort. Bereits am 20. März hatte Kriminaloberrat Michael Gerg die Stuttgarter Staatsanwaltschaft informiert. Kurz darauf erfuhr auch das Innenministerium von dem Debakel am Autohaus.
Die schwer verletzten Polizisten aus Filderstadt sind mittlerweile außer Lebensgefahr. Während sich der 38 Jahre alte Familienvater in der Rehabilitation befindet, liegt seine ein Jahr jüngere Kollegin noch immer in der Klinik. Die Mutter eines Kindes wurde im Gesicht und an der Hand operiert. Kretschmer hatte aus etwa zehn Metern auf das dunkelblaue Zivilfahrzeug der völlig überraschten Polizisten gefeuert. Mit nur einem Schuss traf er beide. Am schlimmsten erwischte es die Frau auf dem Beifahrersitz. Hans-Dieter Wagner, Leiter der Polizeidirektion Esslingen, sagte gegenüber FOCUS, die beiden Beamten seien psychisch „noch sehr schwer angegriffen“. Aber: „Sie haben erklärt, dass sie so bald wie möglich in ihren Job zurückkehren wollen.“
Der Polizist, der Kretschmer zunächst angeschossen hatte und dann entkommen ließ, blieb körperlich unverletzt. Schon am nächsten Tag erschien er wieder zum Dienst.