Eine Spezialabteilung beim Bundeskriminalamt (BKA) klärt Schusswaffen-Verbrechen auf – Attentate auf Politiker, Amokläufe, Terroranschläge. FOCUS blickte exklusiv in das Reich der stillen Ermittler
Sie liegt gut in der Hand. Drei Finger umklammern den Griff, einer berührt den Abzug. Kimme und Korn sind auf Sichtachse. Mein ausgestreckter Arm zittert. Ich halte die Waffe des Erfurter Amokläufers Robert Steinhäuser. Eine schwarze Glock 17, Kaliber 9 Millimeter. 17 Menschen starben durch Schüsse aus diesem Mordwerkzeug. Der Gedanke lässt mich erschaudern. Schnell lege ich die Pistole zurück in den abschließbaren Glasschrank. Die Vitrine steht beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden, genauer gesagt im Kriminaltechnischen Institut – das Hirn der obersten deutschen Polizeibehörde. 325 Wissenschaftler arbeiten hier an der Aufklärung von Verbrechen: Chemiker, Mathematiker, Biologen, Elektroniker, Linguisten, Phonetiker.
Die Spezialisten für Schusswaffen (Fachbereich KT 21) sitzen in einem Hochsicherheitstrakt. Stacheldrahtzäune, Videoüberwachung, scharfe Kontrollen. Einige Räume sind nur mit Zugangscode zu öffnen. Die 37 Mitarbeiter haben einen brisanten Job. Sie sollen herausfinden, mit welcher Waffe ein Verbrechen verübt wurde und wie der Täter vorging. Oft liefern sie entscheidende Hinweise auf den Killer. Spektakuläre Fälle im In- und Ausland haben die Waffenkundler schon bearbeitet: Anschläge der Roten Armee Fraktion (RAF), die Mordserie des Terrortrios NSU, die Attentate auf Schwedens Premier Olof Palme und Serbiens Ministerpräsident Zoran Djindjic, eine Suizidwelle unter britischen Soldaten.
„Wir sind sehr erfahren und arbeiten mit modernsten wissenschaftlichen Methoden“, sagt Thomas Liebscher, 47. Der studierte Physiker, schlank, 1,93 Meter groß, leichte Brille, kam 2003 zur Schusswaffenabteilung, seit zwei Jahren leitet er den Fachbereich. Sein schwerster Fall: der Amoklauf von Winnenden 2009. Drei Monate saß er am Gerichtsgutachten über die Wahnsinnstat (16 Tote). Gemeinsam mit Kollegen ermittelte er Schussbahnen und Aufprallwinkel, den Laufweg des Täters, die Positionen der Opfer. „Zu 100 Prozent kann man ein Verbrechen nie rekonstruieren“, sagt Liebscher, „aber wir tun alles, um der Wahrheit so nah wie möglich zu kommen.“
Das Urgestein beim KT 21: Michael Benstein, seit 1979 Polizist, Herr über die BKA-Waffensammlung. In riesigen Stahlschränken lagern mehr als 9000 Schusswaffen – von der Westentaschenpistole für 40 US-Dollar bis zum kriegserprobten Scharfschützengewehr für 11 000 Euro, Reichweite 2,4 Kilometer. Viele Stücke stammen aus illegalem Besitz und Armeebeständen, einige Waffen gehörten Verbrechern. Das BKA selbst kauft ständig neue Modelle, zuletzt einen Revolver Super Redhawk, Kaliber 480 Ruger. „Unsere Sammlung ist kein Museum“, sagt der 53-jährige Benstein. „Wir brauchen sie, um zu lernen.“ So prüfen die Experten, wie Schusswaffen technisch funktionieren, wie die Bauteile zusammenspielen und welche Spuren sie auf der Munition hinterlassen.
Stellt die Polizei irgendwo in Deutschland eine Waffe sicher, geben Kriminaltechniker daraus einen Schuss ab, meist in ein Wasserbecken. Auf der verfeuerten Munition bleiben – je nach Waffentyp – charakteristische Mikrospuren wie Schrammen oder Kerben zurück. Diese Merkmale gleichen die BKA-Leute mit der Zentralen Tatmunitionssammlung ab. Dort befinden sich sämtliche Munitionsteile, die Polizisten an Tatorten gefunden und nach Wiesbaden geschickt haben. „Derzeit liegen 4200 Hülsen und 1700 Geschosse bei uns“, sagt Spurenfachmann Jan Eckert, 32. Jedes Asservat wurde gescannt, die hochauflösenden Bilder stehen in einer Datenbank. Kommt neue Munition hinzu, sucht der Computer nach übereinstimmenden Spuren. Der Feinabgleich erfolgt unter dem Mikroskop. „Im Idealfall können wir Tatmunition und Schusswaffe zusammenführen“, berichtet Ingenieur Eckert.
Letzte Station im Reich der Waffenprofis: das ballistische Labor. Aus Lautsprechern dröhnen Warnungen, grellgelbe Leuchttafeln („GEFAHR“) signalisieren: Hier wird scharf geschossen. Ein BKA-Beamter im weißen Kittel stülpt sich Ohrenschützer über, betritt eine von drei Schießbahnen (die längste 100 Meter lang) und zielt auf einen Gasbetonklotz. „Wir untersuchen gerade, wie sich Geschosse beim Aufprall auf verschiedene Materialien verhalten“, sagt Chef-Ballistiker Bernd Salziger, 49.
Der Physiker und sein Team sind immer dann gefragt, wenn es Unklarheiten zum Tathergang gibt, etwa im Münchner NSU-Prozess. Wo stand der Schütze? Aus welcher Entfernung hat er abgedrückt? Wie viele Schüsse sind gefallen? Anhand der Tatortspuren rekonstruieren die Kriminalwissenschaftler das Verbrechen – und widerlegen nicht selten die Aussagen von Beschuldigten. So beteuerte ein Mann, er habe seiner Frau aus Versehen mit einer Jagdflinte in den Kopf geschossen aus etwa zwei Meter Entfernung. Salziger stellte fest: Der Abstand betrug nur 14 Zentimeter. Der Mörder wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.