Bei ihren Ermittlungen zur NSU-Mordserie stützten sich die Fahnder auf Hinweise eines Drogen-Gangsters, der sie komplett in die Irre führte
Sie tarnten sich als Döner-Verkäufer, verwanzten Autos von Opfer-Angehörigen und erbaten Hilfe von einem Geisterbeschwörer. Bei ihren Ermittlungen zur Mordserie an türkischen Geschäftsleuten gingen die Fahnder äußerst kreativ vor. Doch weder mit unkonventionellen Methoden noch auf klassische Art kamen die Polizisten voran. Irgendwann mussten sie auf ein Wunder hoffen. Am 12. Oktober 2005 schien das Wunder einzutreten – in Gestalt eines 35 Jahre alten Mannes, der behauptete, er könne „wichtige Angaben“ zu den Verbrechen machen. Unbekannte hatten zu diesem Zeitpunkt sieben Einwanderer erschossen, zwei weitere sollten in den nächsten Monaten folgen.
Der Türke Mahir E. erklärte der Polizei, er kenne sowohl Täter als auch Auftraggeber für die Morde an Enver Simsek 2000 in Nürnberg und Süleyman Tasköprü 2001 in Hamburg. Die Hinrichtungen, berichtete der Zeuge, gingen auf das Konto von zwei in Holland lebenden Brüdern. Die Experten der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) „Bosporus“ waren begeistert. Sie hielten den Mann für so glaubwürdig, dass sie ihn in ein Zeugenschutzprogramm aufnahmen. „Er zeigte sich überzeugt davon, den Mordfall Simsek zu 100 Prozent und den Mord in Hamburg zu 50 Prozent aufklären zu können“, heißt es in einem Vermerk der Polizei.
Insgesamt achtmal vernahmen die Fahnder ihren Top-Informanten. Auf Grund seiner Angaben recherchierten sie monatelang im In- und Ausland. Sie zapften Telefone an, durchsuchten Wohnungen, observierten Verdächtige. Den Aufwand hätten sich die Kripoleute sparen können: Mahir E. war ein Maulheld. Seine Angaben erwiesen sich als Humbug – was nicht sonderlich überrascht: Nach FOCUS-Recherchen handelt es sich bei dem selbst ernannten Hinweisgeber um einen Schwerkriminellen. Mahir E. wurde wegen Rauschgiftdelikten zu neun Jahren Haft verurteilt und saß seit Juni 2003 in Bayern im Gefängnis. Aus der Unwirtlichkeit seiner Zelle heraus diente er sich der Polizei an, natürlich nicht, ohne Gegenleistungen zu fordern. So meldete der Türke Ansprüche auf die Belohnung an und stellte klar, dass er nach seiner Haftverbüßung nicht in seine Heimat abgeschoben werden wolle.
Der in der Öffentlichkeit bislang unbekannte Vorgang zeigt, unter welchem Druck die Fahnder seinerzeit standen und wie schwer es ihnen fiel, die Morde aufzuklären – ein Zustand, der bis heute anhält. Seit knapp acht Monaten steht fest, dass die rechtsradikale Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) die Taten begangen hat. Anfangs hieß es, die NSU-Gründer Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe hätten sich auf ein Netzwerk von Helfern gestützt. Schnell präsentierte die Bundesanwaltschaft ein Dutzend Beschuldigte, mehrere kamen in Untersuchungshaft. Bis auf den früheren NPD-Funktionär Ralf Wohlleben und die einzige Überlebende des NSU-Trios, Beate Zschäpe, mussten alle Verdächtigen wieder freigelassen werden. Die Beweislage ist offenbar viel dünner, als von den Behörden bislang dargestellt. Nicht wenige Experten bezweifeln, dass man Zschäpe die Mitgliedschaft in einer Terror-Organisation wird nachweisen können. Die 37-jährige Thüringerin schweigt zu den Vorwürfen. Damit ist Zschäpe, die alles weiß, für die Ermittler in etwa so wertvoll wie jene Figuren, die nichts wussten, aber immer so taten. Nach fast jedem Mordanschlag meldeten sich inhaftierte Straftäter bei den Behörden und brüsteten sich mit ihrem „Exklusiv-Wissen“.
Ein Doppelmörder aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Celle behauptete, einer der Killer sei Mitglied der türkischen Rechtsextremisten-Partei „Graue Wölfe“. Hintergrund der anderen Morde seien „nicht gezahlte Geldforderungen aus dem Verkauf von Hehlerware, aber auch Betäubungsmitteln“. Ein Häftling aus Berlin prahlte, er kenne die gesamte Mörderbande „vom Fahrer bis zum Depothalter der Tatwaffe“ und sprach von einer „Todesliste“ mit 22 Personen, die er selbst gesehen habe. Die Tätergruppe sei „im internationalen Rauschgifthandel tätig“. Aus der JVA Dortmund meldete sich ein Verbrecher und erklärte, hinter den Morden stecke die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Wenn man ihn freiließe, würde er die Fahnder direkt zu den Tätern und deren Waffen führen. Über einen prominenten Rechtsanwalt schwor ein Ex-Knacki der JVA Straubing, die Tötung eines Geschäftsmanns in Nürnberg 2001 gehe auf das Konto der „türkischen Mafia“. Das Opfer habe der Organisation Geld geschuldet.
So absurd manche der Wortmeldungen klingen, ignorieren können die Fahnder sie nicht. „Es wäre fatal, die Informationen von vornherein als Unsinn abzutun“, sagt ein Spezialist der BAO „Bosporus“. „Manchmal ist eben doch was dran.“ Gleichwohl laufen die Ermittler jedes Mal Gefahr, einem geltungs- oder vorteilssüchtigen Wichtigtuer aufzusitzen. Schlimmer noch: Nicht selten führen Tipps von Unterweltlern auf falsche Fährten und lenken den Blick von anderen Theorien ab. Im Fall der NSU-Morde hielten die Fahnder einen rechtsextremistischen Hintergrund bis zuletzt für unwahrscheinlich. Stattdessen vertrauten sie dem Drogen-Gangster Mahir E., der die Polizei mit seinem Geschwafel von organisierter Kriminalität komplett in die Irre führte. Seiner Darstellung zufolge sei das Mordopfer Enver Simsek „groß im Drogenhandel“ tätig gewesen und habe „durch Glücksspiel viel Geld verloren“. Zum Verhängnis sei ihm die Freundschaft mit einem türkischen Blumenhändler geworden, der im niederländischen Dordrecht lebte.
Der Mann soll Simsek mit einer Frau verkuppelt haben, doch kurz vor der angeblich geplanten Hochzeit habe Simsek „das Verhältnis abrupt beendet“. Diesen Schritt, so der Informant, habe der Mann aus Dordrecht als „derart ehrverletzend“ empfunden, dass er Simsek ermorden ließ. Als Killer habe er ein türkisches Brüderpaar aus Holland angeheuert. Das Duo habe auch den Gemüsehändler Süleyman Tasköprü getötet, behauptete der Zeuge, angeblich „wegen eines Rauschgiftgeschäfts“. So sollen die beiden Brutalos in Hamburg nach Männern gesucht haben, die ihre Drogen nicht bezahlen wollten. Dabei seien sie auf Tasköprü gestoßen und hätten ihn „liquidiert“.
Glücksspiel, Schulden, Drogen, blutige Racheakte – endlich schienen sich jene Tatmotive zu bestätigen, die ein Großteil der Fahnder von Anfang an favorisiert hatte. Blieb nur noch eine kleine Frage: Woher konnte der Informant Mahir E. all diese Dinge bloß wissen?
Die Antwort des Türken klang plausibel. Er habe die Story von einem Landsmann gehört, den er im Frühjahr 2003 in einem Cafe in Rotterdam getroffen habe, kurz bevor er in ein bayerisches Gefängnis einfuhr. Sogar den Namen des Mannes wusste er zu nennen: Osman K. Die Strafverfolger wähnten sich auf der richtigen Fährte. Sie baten die niederländische Justiz um Rechtshilfe und starteten ausgedehnte Nachforschungen. Am Ende füllte der Ermittlungskomplex „Spur 192/Hollandspur“ 14 Aktenordner.
Viel Positives lässt sich den Protokollen nicht entnehmen. Immer wieder heißt es, die Angaben von Mahir E. „konnten nicht verifiziert werden“. So habe sich „kein Hinweis“ darauf gefunden, dass die „Killerbrüder aus Holland“ existierten. Auch für die anderen Aussagen des Zeugen, etwa die „Ehrenmord“-Story oder angebliche Drogengeschäfte der Opfer, gab es keine Belege. „Objektive Ermittlungsergebnisse“, bilanzierten die Fahnder schließlich, stünden den Aussagen von Mahir E. „konträr“ entgegen.