Bei einem Unfall in Thüringen starben die Eltern einer Großfamilie. Nun wollen die Kinder auch ohne Vater und Mutter ihr Leben meistern. Dabei erfahren sie Hilfe vieler Menschen. Eine traurige Geschichte, die Mut macht
Er ist ein Typ mit starkem Händedruck und klaren Prinzipien. Wolfgang Sell, Bürgermeister des thüringischen Ortes Pottiga, nimmt sein Ehrenamt ernst. Um die Gemeindekasse zu schonen, verzichtet der 59-Jährige auf die monatliche Aufwandsentschädigung von 435 Euro. Seinen Schreibtisch hat er aus alten Küchenplatten bauen lassen.
Vor einigen Monaten hat das Schicksal Pottigas erstem Mann eine Aufgabe in die Hände gelegt, die nicht zu seinen normalen Pflichten als Ortsvorsteher gehört. Die er aber angenommen hat und nun gewissenhaft ausführt. Es ist eine ernste Sache. Sie duldet kein Zaudern, kein Nachlassen und kein Wegducken. Seit November vergangenen Jahres unterstützt Sell eine neunköpfige Familie, die in dem 412-Seelen-Dorf wohnt. Eigentlich sind die Kipschs eine zerstörte Familie. Die Eltern André und Heike, 47 und 42 Jahre alt, starben bei einem Verkehrsunfall. Zurück ließen sie acht Kinder und einen Pflegesohn im Alter zwischen vier und 29 Jahren: Paul, Christoph, Tobias, Sebastian, Diana, Franziska, Andreas und Jennifer. Der Pflegesohn heißt Leon-Niklas, ein aufgeweckter Junge mit blonden Haaren und einem T-Shirt von „Bob der Baumeister“.
Die neun Waisen kümmern sich umeinander, so gut es eben geht. Die Älteren versorgen die Kleinen. Sie machen die Wäsche, kochen, putzen, reparieren die Fahrräder. Ohne den Bürgermeister aber wären sie verloren. Sell brachte die Behörden davon ab, die Kipsch-Kinder zu trennen und in Heimen oder anderen Familien unterzubringen. Er war es, der sich dafür einsetzte, dass die Waisen ihr Zuhause behalten können und nicht von Schulden erdrückt werden. Manchmal war er einfach nur da und hörte zu.
Ob es Tragödien gibt, die ein gutes Ende nehmen? Ja, die Geschichte der Kipsch-Kinder beweist es. Die Waisen halten zusammen, versuchen, ihr Leben ohne Eltern zu bewältigen. Der Bürgermeister hilft ihnen. Es helfen die Nachbarn, Menschen in der Region.
Viereinhalb Monate nach dem Unfall hat sich die Familie ein Stück Normalität zurückerobert. Die Kinder können wieder lachen, toben, streiten. Einer der Jungs ist Fan vom FC Bayern, ein anderer vom BVB, und alle wollen gleichzeitig mit der Wii-Konsole spielen. Die Mädchen haben Piercings, Tattoos und jede Menge Facebook-Freunde. Auf ihren Telefonen läuft Musik von Xavier Naidoo, Paul Kalkbrenner, Nickelback. Wenn es Probleme gibt im Job oder in der Liebe, haben sie ihre Geschwister. Ihre Eltern haben sie nicht mehr.
Am 29. November 2013 fuhren André und Heike Kipsch zum Einkaufen. Fünf ihrer Kinder und der Pflegesohn saßen mit im Ford Tourneo, einem geräumigen Auto, das sie sich extra für diesen Tag geborgt hatten. Auf dem Rückweg schaltete der Vater die Scheinwerfer an. Ruhiger Feierabendverkehr. Leichter Schneefall. Noch zwölf Kilometer bis nach Hause. Im Radio lief Bayern 3. Der 18-jährige Tobias hockte auf der Mittelbank. Er schaute durch die Frontscheibe. Auf der Gegenseite näherte sich ein Auto. Plötzlich scherte es aus. Der Vater riss das Steuer nach rechts. Er schrie: „Duckt euch!“ Im nächsten Moment krachten die Autos aufeinander. Der Familienwagen flog von der Straße, er drehte sich und wurde ein zweites Mal gerammt, diesmal im hinteren Teil. „Als ich das Auto auf uns zukommen sah, bin ich über den Sitz auf die Rückbank gesprungen“, berichtet Tobias. „Dort saßen meine Brüder.“ Schützend, wie ein menschlicher Airbag, warf er sich auf den vierjährigen Paul und den sechs Jahre alten Christoph. Sie überlebten. Neben ihnen hing die Mutter im Gurt. Tobias, der vor Kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte, fand bei ihr keinen Puls. Behutsam strich er die Haare aus dem Gesicht der Mutter. Ein Kuss auf die Stirn. Dann verschloss er ihre Augen. Der Vater war auf dem Fahrersitz eingeklemmt. Er atmete schwer. Tobias und sein Zwillingsbruder Sebastian beugten sich über ihn, tätschelten sein Gesicht. „Papa, du schaffst es, wir brauchen dich. Mama ist tot“, riefen sie. „Wir haben dich lieb!“ Der Vater bewegte die Lippen. „Hab euch auch . . .“ Dann starb er.
Warum traf es die Eltern? André Kipsch saß vorn, Heike hinten. Genau an diesen Plätzen bohrte sich der Transporter des Kurierdienstes UPS ins Familienauto. War Gott in diesem Moment abwesend? Oder war er da, um die Kinder zu retten? Gemeindepfarrer Tobias Rösler, der den Hinterbliebenen beistand, sagt: „Auf diese Frage weiß nur einer Antwort: Gott selbst.“ Vier Tage verbrachten die Waisenkinder im Krankenhaus. Dann kehrten sie zurück nach Pottiga, in ihr Elternhaus ohne Eltern. „Ich wollte erst nicht reingehen“, sagt die 22 Jahre alte Diana, „habe mich im Auto festgeklammert.“ Die kleinen Jungs weigerten sich zu schlafen. Sie bestanden darauf, dass Mama und Papa zurückkommen.
Romy Hinz, die Schwester der verunfallten Mutter, versuchte, die Kinder zu beruhigen. Die 41-Jährige wohnt schon länger mit im Haus der Kipschs, sie hat ein Zimmer im Erdgeschoss. Zu ihrem Job bei Burger King kommt nun eine zweite, viel größere Aufgabe: „Ich muss dafür sorgen, dass die Kinder zurück ins normale Leben finden.“ Aber wie soll das gehen? Das fragte sich auch Bürgermeister Sell. Nach dem Unfall war ihm klar: „Ich muss den Angehörigen zeigen, dass jemand für sie da ist, einer, auf den sie sich verlassen können.“ Als sein eigener Vater starb, war Sell 19. Für ihn eine Katastrophe, obwohl die beiden nicht immer einer Meinung waren. Dass er sich mit seinem Vater nicht mehr versöhnen konnte, quält ihn bis heute. Vielleicht setzt er sich deshalb so für die Waisen ein.
Anfangs sitzt Sell fast täglich mit ihnen zusammen. Gemeinsam beraten sie, wie es weitergehen soll. Wer erhält das Sorgerecht? Was wird aus dem Erbe? Wie kommen die Kleinen in den Kindergarten? Für alles findet Sell eine Lösung. Auch für die Schulden. Auf seine Initiative erlässt die Sparkasse einen Restkredit für das Haus in der Ortsmitte von Pottiga. Der Vater hatte es vor langer Zeit für seine Familie, zu der auch fünf Katzen gehören, gekauft. Viel Geld war nie da bei den Kipschs. Aber sie kamen ohne Hilfe des Staates aus, das war ihnen wichtig. Er fuhr jeden Tag Biogemüse aus, sie sortierte im Supermarkt Regale ein. Für einen Urlaub am Meer reichte es nie. Ihr Traumland Kanada sahen sie vom Sofa aus, mit der Fernbedienung in der Hand.
Am Familiensitz stehen dringende Reparaturen an. Das Dach ist undicht, Mauern sind feucht, die Fassade bröckelt. „Papa wollte das alles machen“, sagt Tochter Jennifer, 29. „Das Haus fertig zu bauen war sein großer Traum.“ Obwohl das Gebäude in einem sehr schlechten Zustand ist, wollen die Kinder auf keinen Fall ausziehen. Sie verbrachten ihr ganzes Leben hier, bei Vater und Mutter, die nun von zwei Fotos ins Wohnzimmer lächeln. Die Eltern hatten keine Lebensversicherung. Ihre Kinder warten bislang vergeblich auf eine Entschädigung durch den Unfallgegner. Damit die Bauarbeiten am Haus bezahlt werden können, richtete der Bürgermeister ein Spendenkonto ein.
Drei Wochen nach dem Unfall war Weihnachten. Wolfgang Sell besorgte der Familie einen Tannenbaum. An Heiligabend brachte er Geschenke. Menschen aus ganz Thüringen hatten Spielzeugpakete nach Pottiga geschickt, manche kamen persönlich ins Gemeindehaus. Ein Imker schenkte Honig, ein Uhrmacher Uhren, jemand lieferte Brennholz an. Die Rockband Frei.Wild spendete 10 000 Euro. Beim Adventskonzert in der Kirche wurde der Bürgermeister nach vorn gebeten. Besucher hatten Geld für die Waisen gesammelt. Als Sell sich bedanken wollte, versagte ihm die Stimme. „Es heißt ja oft, in Deutschland denke jeder nur an sich. Die Menschen seien kalt und herzlos.“ Doch die Anteilnahme nach dem Unfall sei überwältigend gewesen. „Die Familie hatte das Gefühl, nicht allein zu sein“, berichtet Sell. Nicht allein, das mag stimmen. Aber es bleibt ein Loch. Eine Leerstelle, die nichts und niemand füllen kann. „Papa fehlt mir sehr“, sagt die 23-jährige Franziska und beißt sich auf die Unterlippe. Oft denke sie, Mensch, das könntest du jetzt den Papa fragen. Wie gern würde sie ihm erzählen, was sie Tolles erlebt hat. Bestimmt wäre er stolz auf sie. „Doch das geht jetzt nicht mehr . . .“
Diana vermisst ihre Eltern. „Seit dem Unfall weiß ich erst richtig, was ich an ihnen hatte“, sagt die zierliche 22-Jährige. Viel zu oft hätten sie gestritten. „Das Verrückte ist: Ich kann ihnen nie wieder sagen, dass es mir leidtut.“ In Dianas Albträumen rast ein Auto auf sie zu. Einmal fragte der Psychologe: „Was fühlen Sie, wenn Sie einen UPS-Transporter sehen?“ Sie antwortete: „Hass.“ Der Todesfahrer, 25, hat sich bis heute nicht bei Familie Kipsch gemeldet. Vor wenigen Tagen klagte ihn die Staatsanwaltschaft an – wegen fahrlässiger Tötung in zwei und fahrlässiger Körperverletzung in vier Fällen. Ihm drohen bis zu fünf Jahre Haft. Romy Hinz kümmert sich um die Kinder ihrer Schwester, als wären es die eigenen. „Irgendwie muss es ja weitergehen“, sagt sie. Regelmäßig fährt sie mit den Kleinen zur Stelle, an der der Unfall passierte. „Die fragen schon immer, wann sie Mama und Papa Blumen bringen dürfen.“