Göran Schattauer | »Opfer? Welche Opfer?«
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Als Jugendlicher wurde er in die Türkei abgeschoben. Jetzt will der einstmals berüchtigte Serientäter »Mehmet« zurück nach Deutschland. Er gibt sich geläutert – doch viele bezweifeln, dass er aus seiner kriminellen Vergangenheit gelernt hat

 

Er kam gern zum Training. Obwohl der Ascheplatz steinhart war und er nicht zu den besten Fußballern gehörte. Einmal versprang ihm der Ball und rollte einem Mitspieler vor die Füße. Der Junge kickte ihn nicht zurück. Also ging er hin und hämmerte dem Kleinen die Faust in Gesicht. „Arschloch“, brüllte der Zehnjährige sein blutendes Opfer an. So war er, der „Mehmet“, Sohn türkischer Einwanderer, 1984 in München geboren, aufgewachsen in Neuperlach, einem Ghetto am Rand der Stadt. Es war SEIN Ghetto. Regeln und Gesetze mochten für andere gelten. Für ihn nicht. Er raubte Menschen aus, schlug, trat und verhöhnte sie. Schon bald nannten ihn die Reporter „Terrorkind“. Damals, Ende der 90er-Jahre, war „Mehmet“ gerade mal 13.

 

Jetzt, im Alter von 29, meldet sich der einstmals berüchtigte Serientäter zurück. Am 8. Oktober erscheint sein autobiografisches Buch „Sie nannten mich Mehmet“. Auf 272 Seiten erzählt „Mehmet“, der in Wirklichkeit Muhlis Ari heißt, seine Lebensgeschichte. Ganz am Anfang schreibt er, viele Menschen werden ihn nach der Lektüre „noch mehr hassen, als sie es ohnehin schon tun“. Die Sorge des Autors ist berechtigt. Schon deshalb, weil er erklärt, er wolle nach Deutschland zurück, was nicht nur Sicherheitspolitiker als Drohung empfinden und ablehnen. Es gibt noch mehr Gründe, sich aufzuregen. Denn der einst notorische Gewaltkriminelle Muhlis Ari zeigt keinerlei Reue. Er sei doch noch ein Kind gewesen, „das oftmals nicht wusste, was es tat“, rechtfertigt er seine Verbrechen. Immer wieder sei er „den falschen Leuten in die Hände geraten“. Nach seinem Verständnis war er also kein Täter, sondern Opfer. Opfer von Polizei, Justiz und Politik. „Ich bin auf’s Übelste verfolgt worden“, behauptet er.

 

Verfolgt wurde der Türkenjunge tatsächlich – als Krimineller, der den Rechtsstaat auf beispiellose Weise herausforderte. Bis zum Alter von 13 Jahren verübte er 61 schwere Straftaten, ohne dass er sich dafür verantworten musste. Er war ein Kind. Und in Deutschland kommen Kinder nicht ins Gefängnis. Um ihn und seine Familie zu schützen, gaben die Behörden ihm einen Alias-Namen: „Mehmet“. Seither steht das Pseudonym „Mehmet“ für einen der bundesweit krassesten Fälle von Jugendkriminalität. Zugleich steht es für den – damals wie heute – schwierigen Versuch, Ausländer zu integrieren, die sich nicht an Recht und Gesetz halten wollen.

 

1998 lösten die bayerischen Behörden das Problem „Mehmet“ auf rigorose Weise: Nach seiner 62. Straftat, einem Raub mit gefährlicher Körperverletzung, schoben sie Muhlis Ari in die Türkei ab, mit 14, ohne Eltern, in einer Lufthansa-Maschine. Irgendwie glaubte (und hoffte) damals jeder, „Mehmet“ sei ein für allemal weg. Und mit ihm die ganzen Probleme, die er hier gemacht hatte. Nun ist er wieder da – jedenfalls als Autor, der seine verkorkste Lebensgeschichte verkauft. Vielen dürfte das zuwider sein. Besonders jenen, die er früher misshandelt hat. An einer Stelle im Buch schildert er das Gespräch mit einer Journalistin. Sie wollte wissen, wie er zu seinen Opfern stehe. „Welche Opfer denn?“, fragte er zurück. 25 Seiten später wird klar, wen die Leser für das wahre Opfer halten sollen: „Mehmet“.

 

Kurz nach seiner Abschiebung geriet er in den Verdacht, einen Computer gestohlen zu haben. Um ein Geständnis zu erpressen, hätten ihn Polizisten in ein Kellerverlies geschleppt und gefoltert, so „Mehmet“. Angeblich wurde er mit Wasserstrahlen traktiert und mit Stromstößen gepeinigt. Es fällt schwer, „Mehmet“ zu glauben. Er hat Unterschriften gefälscht und eine Richterin belogen. Er trickste, täuschte und blendete, und nicht selten kam er damit durch. 2001 versicherte er einem Gerichtsgutachter, er habe der Gewalt abgeschworen und sei ein friedfertiger, lieber Mensch geworden. Derselbe Psychiater, der ihn kurz vor der Abschiebung 1998 als hoffnungslosen Fall bezeichnet hatte, stufte ihn daraufhin als harmlos ein. Für die nahe Zukunft bestehe „kaum die Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen“, so der Experte. Auf Grund der positiven Beurteilung erklärte das Bundesverwaltungsgericht die Abschiebung für rechtswidrig, 2002 durfte „Mehmet“ zurück nach Deutschland.

 

Drei Jahre sollte es dauern, bis der junge Türke rückfällig wurde. Er schlug seine Mutter nieder, weil sie ihm kein Geld für Drogen geben wollte. „Mehmet“ wurde zu 18 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, außerdem zu einem Anti-Aggressions-Training und 100 Stunden Sozialarbeit. Eine allerletzte Chance. Er nutzte sie nicht. „Mehmet“ fälschte die Liste, auf der seine geleisteten Sozialstunden aufgeführt waren. Eine Richterin bemerkte den Betrug und machte dem mittlerweile 21-Jährigen klar, dass sie seine Bewährung widerrufen werde. Noch am selben Tag packte „Mehmet“ seine Koffer und ließ sich von einem Kumpel nach Amsterdam fahren, zum Flughafen Schiphol. Ein paar Stunden später landete er in Istanbul. Wie 1998. Doch diesmal hatte ihn niemand gezwungen. Er war aus Angst vor dem Gefängnis geflohen. Die 2005 verhängte Strafe verjährt am 27. Dezember 2015 und darf später nicht mehr vollstreckt werden. Sollte „Mehmet“ vorher nach Deutschland kommen, würde er sofort verhaftet und in eine Justizvollzugsanstalt gebracht, um dort seine Haft zu verbüßen. Danach würde er in die Türkei abgeschoben.

 

Doch selbst wenn der Täter die Verjährungsfrist abwartet – in Deutschland würde er keinen Fuß auf den Boden bekommen. In einem bis heute gültigen Bescheid der Stadt München von 2006 heißt es: „Sie werden aus der Bundesrepublik ausgewiesen. Die Wiedereinreise ist untersagt.“ Gegen die Verbannung kämpft „Mehmet“ zusammen mit seinem Verteidiger Burkhard Benecken aus Marl. Sie stellten ein Gnadengesuch bei der bayerischen Justiz und beantragten, die Ausweisung zeitlich zu befristen. Sogar den Bundespräsidenten schalteten sie ein. Rechtsanwalt Benecken zu FOCUS: “,Mehmets’ Heimat ist und bleibt München. Er möchte zumindest zeitweise wieder dort leben.“

 

Ein Ansinnen, das nicht jedem gefällt. Ginge es nach Hartmut Schreiner, bliebe „Mehmet“ für immer in der Türkei. Der 76-Jährige Ex-Rektor hatte den damals 14-Jährigen aus der Hauptschule geworfen. „Der war ein Psychopath, hat ohne Grund zugeschlagen. Die Schüler hatten riesige Angst vor ihm.“ Eine Rückkehr des einstigen Brutalos sieht Schreiner skeptisch. Vermutlich würde „Mehmet“ wieder in die alten Kreise rutschen und kriminell werden. „Die Gefahr, dass er erneut zuschlägt, ist groß.“ Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) schwant Böses, weshalb er „Mehmet“ zur unerwünschten Person erklärt: „Er hat wiederholt bewiesen, dass er keine Bereicherung für die deutsche Gesellschaft ist“, so Herrmann zu FOCUS. Der Türke habe anderen Menschen schweres Leid zugefügt und sei immer wieder rückfällig geworden. „Auf solche Leute verzichten wir gern in unserem Land.“ Und was sagt Herrmanns Vorgänger Günther Beckstein? Bayerns einstiger Polizeiboss hatte „Mehmets“ Ausweisung maßgeblich mitbetrieben. Noch heute verteidigt er sein Vorgehen. Man habe damals große Probleme mit jungen Intensivtätern aus dem Integrationsmilieu gehabt. „Deshalb ging es auch darum, ein Exempel zu statuieren.“

 

In seinem Buch nennt „Mehmet“ Becksteins Verhalten „widerlich und krank“. Der Politiker habe „das Leben eines 14 Jahre alten Kindes absichtlich zerstört, um sich zu profilieren“. Andere Sätze vermisst man. Einen wie: „Ich bitte meine Opfer um Verzeihung.“

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