Ein Zwischenruf von Göran Schattauer
200. Verhandlungstag gegen die Terrorgruppe NSU: Das Gericht will brutalstmöglich aufklären – und verliert dabei das wahre Ziel aus den Augen
Zehn Morde, zwei Bombenanschläge, 15 Banküberfälle – die Vorwürfe gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) wiegen schwer. Seit Mai 2013 steht mit Beate Zschäpe die einzige Überlebende der rechtsextremen Terrorgruppe vor dem Oberlandesgericht München und mit ihr vier mutmaßliche Helfer. Nächste Woche findet der 200. Verhandlungstag statt. Bald geht der Prozess, der die Steuerzahler bisher 30 Millionen Euro kostete, ins dritte Jahr. Schon jetzt dauert die juristische Aufarbeitung der NSU-Verbrechen länger als der Düsseldorfer Al-Qaida-Prozess (163 Tage), der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (183) oder der Stammheimer RAF-Prozess (192). Am Ende wird er, was den Aufwand angeht, sogar den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher von 1945/46 übertreffen, für den das Gericht 218 Tage brauchte.
Aber muss das wirklich sein? Meine Antwort: nein!
Es wird höchste Zeit, das NSU-Verfahren zu beenden. Nach akribischer Prüfung Zigtausender Dokumente, der Befragung von mehr als 500 Zeugen und der Anhörung von fast 40 Gutachtern sollte sich das Gericht über Schuld oder Unschuld von Zschäpe und Konsorten im Klaren sein und endlich ein Urteil fällen. Ein Urteil, auf das viele Menschen im In- und Ausland warten, vor allem die Verletzten und Hinterbliebenen. Doch sie werden sich gedulden müssen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl wirkt wie ein Marathonläufer, der das Ziel längst passiert hat, aber immer weiterrennt, weiter und weiter. Die Frage ist: Wohin? Und: Wem nützt das? Am Ende, so scheint es, will Götzl auch die allerletzte Frage gestellt, das kleinste Detail beleuchtet, den hinterrangigsten Zeugen befragt haben. Aber das Gericht darf sich nicht von dem Gedanken leiten lassen, frühere Fehler staatlicher Institutionen ausbügeln zu wollen, indem es eine Art Übergründlichkeit und Übervorsicht an den Tag legt. Selbstverständlich wollen (und müssen) die Richter dem Vorwurf entgehen, oberflächlich oder gar einseitig zu agieren, allein um keine Revisionsgründe zu liefern.
Und doch liegt es nicht in der Verantwortung des Gerichts, jede Bekanntschaft des NSU zu enttarnen und alle Pannen bei der Suche nach dem Trio aufzuklären. Aufgabe des Strafprozesses ist es vielmehr festzustellen, ob sich jemand eines Verbrechens schuldig gemacht hat oder nicht. Dafür müssen Ermittler Beweise oder Indizien beibringen, das Gericht hat sie zu würdigen und das Strafmaß festzustellen. Was in München passiert, sprengt den Rahmen. Der Prozess hat sich zum juristischen Mammut-Spektakel entwickelt, überfrachtet mit Erwartungen, reich an Nebenschauplätzen. Je länger das Verfahren dauert, desto obskurer und bedeutungsärmer werden die Darsteller. Letztens sagte eine Ex-Nach-barin aus, Zschäpe habe in Zwickau heimlich „Döner gemampft“. Auch das noch!
Der NSU konnte jahrelang rauben, morden, Bomben legen. Niemand hielt die Rechtsterroristen auf. Im Sog dieses Skandals haben einige Verantwortliche bei Polizei und Verfassungsschutz ihren Job verloren – angesichts des Fahndungsfiaskos und nachträglicher Vertuschungsaktionen viel zu wenige. Was dem bis auf die Knochen blamierten Staat blieb, war das Versprechen, die Morde aufzuklären und „alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“ (Kanzlerin Merkel). Aufklärung und Bestrafung, darum also geht es. Für die Aufklärung haben Bund und Länder Untersuchungsausschüsse eingerichtet. Vorbildlich analysieren sie das Versagen der Sicherheitsbehörden und dröseln das Netzwerk der NSU-Unterstützer auf. Die strafrechtliche Beurteilung obliegt dem Gericht. Manfred Götzl und seine Kollegen sollten sich auf den Kern ihrer Aufgabe konzentrieren und endlich die Frage beantworten: Ist Beate Zschäpe eine Mörderin oder nicht?