Christian erwürgt den Menschen, der ihn am meisten liebt. Sein Vater verzeiht ihm, sein Großvater will Rache. Wie ein Verbrechen eine Familie zerstört
Von Göran Schattauer und Sven Döring (Fotos)
Er will die Erinnerung wegschrauben. Holt Bretter aus dem Schuppen, trägt sie hinüber zum leeren Pool. Dann legt er die erste Planke quer über die Vertiefung, zieht die Schrauben mit der Bohrmaschine fest, fügt so Brett an Brett, bis das Becken verschwunden ist. Nichts soll Reinhold Reinhardt daran erinnern, dass hier einst sein Enkel badete. Der Junge, der zum Verbrecher wurde. Das Gericht hat zwar auf Totschlag erkannt. Für den Großvater bleibt er aber ein Mörder.
Wenn Christian seine Strafe verbüßt haben wird und nach Halle an der Saale zurückkehrt, in sein Elternhaus, das nur noch ein Vaterhaus ist, wird er an Reinhold Reinhardt vorbeimüssen. Der Großvater wird am Tor warten. Er wird, so sagt der 76-Jährige, auf seinen Enkel zugehen und ihm die Hände auf die Schultern legen, ganz ruhig, als würde es der Beginn eines versöhnenden Gesprächs sein. Aber die Hände werden nicht stillhalten. Sie werden zum Hals des Enkels wandern und zudrücken. „Ich will Christian in die Augen schauen“, sagt der weißhaarige Mann, „und darin die Angst meiner Tochter sehen, als er sie erwürgte.“
Christian Haupt hat eine Tat begangen, aus der antike Tragödien gemacht sind. Ein Verbrechen, das bis heute kaum zu begreifen ist: Muttermord. „Mindestens fünf Minuten lang“, so steht es in den Gerichtsakten, nimmt er seiner Mutter die Luft. Er übt „massiven Druck“ gegen ihren Hals aus. Zungenbein und Schildknorpel der zierlichen Frau brechen. Christian tötet den Menschen, der ihn am meisten liebt. Und er nimmt seinem Vater die Frau, seinen Großeltern die Tochter.
139 Mütter und Väter wurden in Deutschland zwischen 1999 und 2006 von ihren Kindern getötet. Leipziger Rechtsmediziner fanden in einer Studie heraus: Der typische Elternmörder ist männlich und knapp 30 Jahre alt. Er wohnt noch bei den Eltern oder einem Elternteil, ist ledig und meist arbeitslos. Alkoholmissbrauch und psychische Störungen spielen in je einem Viertel der Fälle eine Rolle. Auf Christian Haupt trifft jedes dieser Merkmale zu.
Rita Haupt stirbt am Morgen des 5. April 2007. Sie ist 48 Jahre alt. Am Abend zuvor liegt sie, wie so oft, allein im Bett. In Gedanken mag sie bei ihrem Mann Thomas sein, der nur noch selten zu Hause ist, seit er den gut bezahlten Bauarbeiter-Job in der Schweiz angenommen hat. Oder bei Tochter Elisabeth, die an der Berliner Charité eine Ausbildung zur Operationstechnischen Assistentin absolviert. Vielleicht grübelt sie auch über Christian, ihr Sorgenkind.
Er ist schon 25 Jahre alt, aber noch immer hat er keine eigene Wohnung, keine Freundin und auch keinen Job. Die Mutter kränkt es, dass ihr Junge, der die Schule mit 2,7 abgeschlossen und Dachdecker gelernt hat, nun von Hartz IV lebt. Was hat sie, die Soziologin, die sich im Jugendamt um Waisen kümmert, nicht alles versucht. Sie besorgt ihm ein Praktikum und schreibt für ihn Briefe an die Agentur für Arbeit. Sie reißt seine Cannabispflanzen aus dem Beet. Sie fleht ihn an, die Tage nicht in seinem abgedunkelten Zimmer zu verdösen. Sie bettelt, er möge sich waschen. Sie schimpft, wenn er wieder mal nach Alkohol stinkt. Mutter und Sohn streiten immer heftiger. „Irgendwann“, vertraut Rita Haupt ihren Eltern angstvoll an, „bringt er mich um.“
Christian lebt im Wahn, fühlt sich verfolgt. Er schläft mit einem Messer unterm Kopfkissen, duscht mit einer Axt in der Hand. Manchmal kriecht er auf allen vieren durchs Haus und stößt dabei Laute aus wie ein gefangen gehaltenes Tier. 2001 lässt die Mutter ihn in die Psychiatrie zwangseinweisen. Ärzte stellen eine paranoid-halluzinatorische Psychose fest. Nach sechs Wochen Klinik bessert sich Christians Zustand. Fortan bekommt er alle 14 Tage eine Spritze. Das Medikament wirkt. So lange, bis Christian zu trinken beginnt. Heimlich, in seinem Zimmer im Keller, in das nur durch zwei vergitterte Fensterschlitze Licht fällt. In die Tür hat er ein Schloss eingebaut. Auch am Abend des 4. April 2007 sperrt er sich ein. Bis Mitternacht leert er vier Flaschen Bier und eine Viertelflasche Goldbrand. Dann bekommt er Hunger.
Der Weg in die Küche führt durch einen schmalen Gang. An den Wänden hängen Urkunden, es sind Erinnerungen an die Zeit als Basketballer bei der TSG Kröllwitz. In der Saison 1997/98 warf Christian in zehn Spielen 228 Punkte, so viele wie kein anderer im Team. Ein Poster zeigt ihn mit Kapitänsbinde, in der Hand hält er einen Pokal. Er zählte zu den Besten der Liga. Irgendwann sagt er dem Trainer, dass er keine Lust mehr hat. Der Trainer weint. Es ist Christians ehrgeiziger Vater.
In der Tatnacht schiebt der Angetrunkene eine Portion Nudeln in die Mikrowelle. Als er den Teller herausnimmt, verbrennt er sich die Finger. Das Porzellan kracht auf die Fliesen. Wenig später steht die Mutter in der Tür. Das Gepolter hat sie geweckt. Sie ist sauer. Über die Scherben. Über Christians Gesaufe. Über seine verpfuschte Zukunft. Sie will reden, er will seine Ruhe. Die Mutter baut sich vor dem Sohn auf. 57 gegen 85 Kilogramm, 1,55 Meter gegen 1,67. Was in den nächsten Minuten geschieht, können die Ermittler nicht mehr rekonstruieren: wer zuerst die Hand erhebt. In welchem Zimmer er sie würgt. Ob die Mutter, schwer verletzt, in die Garage flüchtet, um Hilfe zu holen. Ob sie bereits tot ist, als Christian sie die Kellertreppe hinabstößt. Wie er die Leiche über zwei Etagen ins Bett schleppt. Wie er das Blut im Haus beseitigt.
Am nächsten Morgen blickt Ursula Reinhardt aus dem Küchenfenster. Das Haus ihrer Tochter, das älteste ihrer fünf Kinder, steht keine 30 Meter entfernt. Es ist nach zehn, doch die Jalousien sind geschlossen. Seltsam, denkt die 69-Jährige. Ihr Mann beruhigt sie. Zwei Stunden später schaut Reinhold Reinhardt dann doch nach. Er öffnet die Haustür und hört ein Plätschern. Ob Rita duscht? Doch das Geräusch kommt vom Aquarium. Reinhardt geht ins Schlafzimmer. Im Bett liegt seine Tochter. Mit blauem Gesicht, zerkratzt, in blutgetränktem Bettzeug. Reinhardt versteht sofort. Und begreift doch nichts. Er rennt aus dem Haus und brüllt: „Die Rita ist tot!“ Seine Frau eilt zu ihm, sieht ihre Tochter im rosa Schlafanzug. Zuerst glaubt sie, Rita habe sich das Leben genommen.
Ihr Mann ist inzwischen in den Keller gelaufen. Christian kauert im Bett, das Gesicht zur Wand. „Die Mutti ist tot“, ruft Reinhardt. Christian rappelt sich hoch und murmelt etwas wie: „Wieso tot? Die liegt doch im Bett.“ Dann steht er auf. Er trägt nur Boxershorts. Von der Tür her fällt Licht auf seinen muskulösen Oberkörper. Der Großvater erkennt Kratzspuren im Gesicht und an den Armen des Jungen. Er schreit: „Das warst du! Du Schwein!“ Christian erwidert: „Ich mach doch die Mutti nicht tot.“ Der Großvater schlägt zu. Seine Frau geht dazwischen, aus Angst, ihr Mann könnte Christian umbringen. Dass sie es verhindert hat, bereut sie schon am nächsten Tag. „Es wäre nicht schlimmer gewesen, wenn er ihn erschlagen hätte.“ Sie sagt, das klinge hart. Aber sie stehe dazu. Auch jetzt noch.
Die Großeltern haben viel getan für Christian. Als Kind nehmen sie ihn mit zum Skifahren und lehren ihn bei Waldausflügen die Liebe zur Natur. Später geben sie ihm Arbeit im Garten, lassen ihn spüren, dass er gebraucht wird, zuletzt beim Bau einer Hundehütte. Tagelang zimmern Opa und Enkel, isolieren Wände und nageln Holzschindeln auf das Dach. Christian scheint Freude zu empfinden und Stolz. An dem Tag, an dem die Hütte fertig werden soll, sagt Christian ab. Er müsse sich einen neuen Autoauspuff besorgen. Es ist der Tag, an dem er seine Mutter umbringen wird.
„Das Herz der Familie ist tot“, ruft der Großvater zornerfüllt den Trauernden zu, die in der Petruskirche Abschied von Rita nehmen. „Wer mit den eigenen Händen seine Mutter schlägt, schwer verletzt und anschließend erwürgt, ist kein Mensch mehr.“ Mit bebender Stimme fährt er fort: „Das Mutterblut an seinen Händen bleibt ewig haften, auch wenn er sie hundertmal wäscht.“ Christians Vater treffen die Worte schwer. Aus Angst vor weiteren Wutausbrüchen seines Schwiegervaters organisiert er für die Beerdigung einen Sicherheitsdienst. Am Friedhofsfeld 004, Grab 00048, postieren sich sechs Männer, die aussehen wie Türsteher.
Als Thomas Haupt am Telefon von dem Verbrechen an seiner Frau erfährt, brüllt er vor Schmerz. Doch schon im selben Augenblick beschließt er: Ich stehe zu Christian. Auch wenn er damit in einen fast unmenschlichen Konflikt taumelt, denn Haupt trauert um seine Frau und will zugleich für seinen Sohn, den Täter, eine Stütze sein. Rita hätte es so gewollt, glaubt der 51-Jährige. „Wenn Christian nicht sie getötet hätte, sondern mich, hätte sie ihm auch verziehen.“ Ihr Ehering steckt am kleinen Finger seiner rechten Hand. Um den Hals trägt er eine Kette mit Christians Namen.
Er lässt eine Todesanzeige drucken, auf der Christian unter den Trauernden steht. Er bezahlt zwei Anwälte und ist froh, als sein Sohn mit sieben Jahren Haft ein mildes Urteil erhält, obwohl der Psychiater im Prozess warnt, Christian werde “ähnlich strukturierte Straftaten in Zukunft erneut begehen“. 2014 wird er freikommen. Der Vater besucht den Sohn regelmäßig im Gefängnis. Sie schreiben einander. Was genau vor zweieinhalb Jahren geschehen ist und warum, darüber schweigt Christian. „Normalerweise“, sagt der Vater, „kann man nach einer solchen Tat nicht weiterleben.“ Sein Sohn schaffe es jedoch. Er sei nicht labiler geworden, sondern stärker. Wenn Christian wieder draußen ist, will er mit ihm auf Weltreise gehen. Er wolle versuchen, sein Kind zu verstehen, sagt er.
32 Jahre und sieben Monate war Thomas Haupt mit Rita zusammen. 11890 Tage, 285360 Stunden. Die Zahlen schreibt er in ein Notizbuch mit karminrotem Umschlag. Die Aufzeichnungen in seinem Tagebuch zeigen, wie unsicher und verzweifelt er ist. War es richtig, wegen ein paar Euro mehr ins Ausland zu gehen und seine Frau mit dem kranken Kind zurückzulassen? War es klug, Christian dem Druck im Basketballverein auszusetzen? Verstärkte das Kellerzimmer seine düsteren Stimmungen?
Bei der Frage, ob Christian ein Mörder sei, muss der Mann mit den raspelkurzen Haaren kurz überlegen. „Nein. Er ist mein Sohn.“ Aus einer Autobahnkirche hat Haupt einen Zettel mitgenommen. Darauf steht: „Fang den Tag von heute nicht mit den Scherben von gestern an.“ Mehr als 30 Jahre lang sind seine Schwiegereltern wie Freunde für Thomas Haupt. Rita und er bauen neben den Reinhardts. Gemeinsam fahren sie in den Urlaub, feiern Feste. An Christians 20. Geburtstag rauchen Opa, Schwiegersohn und Enkel Zigarre. Heute trennt ein Zaun die Grundstücke der Familien – und ein Abgrund aus Hass. „Blut ist dicker als Wasser“, sagt Thomas Haupt. Reinhold Reinhardt sagt: „Sie war unser Fleisch und Blut.“ Ist und war – darin liegt der Unterschied.
Ursula und Reinhold Reinhardt gehen jeden Tag auf den Friedhof, wo ihre Tochter in einem Kiefernsarg mit eingeschnitzten Rosen beerdigt wurde. Und jedes Mal lesen sie, was Christians Vater auf den Grabstein hat gravieren lassen: „Vergib deinem Nächsten, was er dir zuleide getan.“ Ursula Reinhardt empfindet das als Provokation. Sie sagt: „Ich vergebe nicht. Niemals!“ Sie stört nicht so sehr, dass Christian Halbwaisenrente zusteht und ein Viertel von Ritas Erbe. Aber sie versteht nicht, dass der Vater seinem Sohn vergeben kann. Die Zahl ihrer Enkel hat sich für sie von acht auf sieben reduziert. Sie muss bis heute therapiert werden. Ihr Mann war auch mal bei einer Psychologin. Nach ein paar Minuten ist er gegangen. „Ich will meine Wut nicht loswerden“, sagt er, „ich will meine Wut behalten.“
Thomas Haupt will Christian vor dem Großvater schützen. Er sagt: „Der gibt erst Ruhe, wenn Christian in die Erde fährt.“ Reinhold Reinhardt sagt, wer eine solche Tragödie erlebt hat, habe das Recht zu hassen. Er sucht Gerechtigkeit – oder das, was er dafür hält. Polizisten und Staatsanwälte mögen dies als angekündigte Straftat verstehen: „Ich kämpfe“, sagt er, „bis zum bitteren Ende.“ Das Gericht hat auf Totschlag erkannt. Für den Großvater bleibt Christian ein Mörder. Als der Vater vom Verbrechen erfährt, brüllt er vor Schmerz. Und sagt sofort: Ich stehe zu meinem Sohn.