Zur Glanzzeit des 1. FC Magdeburg arbeitete der Clubchef als Informant des Geheimdienstes – und stellte missliebige Spieler kalt
Er ist einer der wenigen DDR-Fußballclubs, die schon vor der Wende international Furore machten. 1974 gewann der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger, und auch der berühmteste Torjäger der Ossis spielte für die Blau-Weißen: Jürgen Sparwasser schoss bei der WM 1974 den 1 : 0-Siegtreffer gegen den späteren Weltmeister BRD.
Im vereinten Deutschland versank der Verein in der Bedeutungslosigkeit. Schlagzeilen produzierte er nur, wenn es um Stasi-Verstrickungen ging. Der härteste, 2005 bekannt gewordene Fall: 1986 spritzte der damalige Teamarzt einen Torwart des Clubs absichtlich krank. Der Keeper galt als „unzuverlässig“ und sollte nicht mit zu einem Europapokalspiel nach Spanien fahren.
Nicht nur in der medizinischen Abteilung hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) seine Helfer, sondern auch ganz oben, in der Vereinsspitze. Nach FOCUS-Recherchen arbeitete Ulrich Kammrad, von 1976 bis 1981 Clubchef des 1. FC Magdeburg, für die Stasi. Unter dem Decknamen „Volker Ernst“ lieferte er jahrelang Interna über Spieler und Mitarbeiter des Vereins. Den Akten zufolge verhinderte er, dass politisch unbequeme Kicker in den Westen reisen durften. In mindestens einem Fall sorgte er dafür, dass ein exzellenter Spieler wegen seiner angeblich DDRkritischen Haltung aus dem Club geworfen wurde.
Dem Fußball blieb der einstige Spitzel-Funktionär treu. Bis heute arbeitet der 76-Jährige an exponierter Stelle im Fußballverband Sachsen-Anhalt. Zudem ist er Ehrenmitglied des Magdeburger Traditionsvereins, der kürzlich in die dritte Liga aufstieg. Bei Nostalgie-Treffen mit Fans schwärmt Kammrad gern von der goldenen Ära in den 70ern, die er maßgeblich mitprägte. Seine Stasi-Vergangenheit blendet er dabei aus. Laut Akten unterschrieb der Diplomsportlehrer am 17. Mai 1976 eine Verpflichtungserklärung als Stasi-Informant. Konspirative Treffen mit seinen Führungsoffizieren fanden meist im Dienstzimmer des Clubchefs statt. Für seine Berichte erhielt er mehrfach Geldprämien.
Zu den harmloseren Themen, über die Kammrad berichtete, gehörte der Alkoholkonsum der Truppe. Nach einem Freundschaftskick gegen Eintracht Braunschweig habe sich jeder Spieler „zirka 5 Bier“ reingekippt, notierte der Schnüffler. Auf der Rückreise von einem Europapokalauftritt im französischen Lens seien zwei Spieler sturzbetrunken gewesen und hätten sich „nicht mehr unter Kontrolle“ gehabt. Einer habe sich sogar auf der Toilette des Flughafens erbrochen. Aufmerksam beobachtete Kammrad das Einkaufsverhalten der Sportler. Nach dem 3 : 1-Sieg bei Schalke 04 (damals mit Topspielern wie Rolf Rüssmann, Rüdiger Abramczik und Klaus Fischer) im Herbst 1977 hätten sich die Magdeburger Balltreter um ihren Superstar Jürgen Sparwasser mit „Schallplatten, Tonbandkassetten und Textilien“ eingedeckt. Auch Eheprobleme und Westkontakte von Spielern meldete der Funktionär dem Geheimdienst.
Dass seine Berichte zum Teil folgenschwere Konsequenzen hatten, zeigt ein Aktenvermerk vom 22. September 1976. An diesem Tag übermittelten ihm zwei MfS-Leute das Gerücht, ein Spieler des Vereins plane Republikflucht. Obwohl es dafür nicht den geringsten Beweis gab, griff der Clubchef hart durch. Er schlug vor, dass der Sportler „aus dem 1. FCM ausdelegiert“ werde, was auch geschah. Dass hinter dem Rauswurf ein Stasi-Komplott steckte, sollte niemand erfahren. Im Protokoll wird gewarnt: „Keinerlei Hinweise auf das MfS.“
Der Name des Opfers ist in den Akten geschwärzt, doch nach FOCUS-Informationen handelt es sich um Bodo Sommer, heute 62. Der Verteidiger bestritt in den 70er-Jahren mehr als 50 Pflichtspiele für den Club und wurde dreimal DDR-Meister. Zu Europapokal-Vergleichen im Westen durfte Sommer jedoch nicht mitfahren, im Alter von 24 Jahren musste er den Club verlassen. Er wurde in die Nationale Volksarmee verbannt und verkümmerte später in der zweiten Liga – für einen ambitionierten DDR-Leistungssportler die Höchststrafe.
Nach dem Mauerfall hat Sommer, der als Servicetechniker für Hausgeräte arbeitet, seine mehrbändige Stasi-Akte gelesen. Dabei stieß er auf etliche Verräter unter Mitspielern und Funktionären, auch auf Vereinsboss Kammrad. „Das Gerücht, dass ich in den Westen wollte, hatte die Stasi erfunden“, sagt er zu FOCUS. „Vom damaligen Clubvorsitzenden bin ich menschlich sehr enttäuscht.“
Für Ulrich Kammrad war das düstere Kapitel seiner IM-Tätigkeit eigentlich abgehakt. Vor wenigen Tagen konfrontierte FOCUS ihn mit Inhalten aus seiner Akte. Nach anfänglichem Leugnen („Ich hatte zur Stasi überhaupt keinen Kontakt“) räumte er die Zusammenarbeit ein: „Na gut, da brauche ich jetzt nicht rumzustreiten.“ Ihm sei es darum gegangen, seinen Club vor dem Klassenfeind zu schützen. „Ich habe dort meine Aufgaben erfüllt. Ich habe dafür gesorgt, dass die DDR sportlich anerkannt wurde. Was soll ich daran heute bereuen?“
Die Stasi zeigte sich mit den Leistungen ihres Top-Informanten zufrieden: „Seine Einsatzbereitschaft war ohne Tadel.“ Kritisch merkten die Geheimdienstler an, Kammrad sei „unehrlich“ und versuche, sich „materielle Vorteile zu verschaffen“. Bei Funktionären westlicher Mannschaften habe er sich „geradezu angebiedert“.
Seine Zuträgerdienste für das MfS könnten Kammrad noch in Bedrängnis bringen, denn bis heute mischt er als ehrenamtlicher Funktionär im Fußballverband Sachsen-Anhalt mit. Kammrad sitzt im Sportgericht. Dort wacht er über das Fairplay, ahndet Regelverstöße, verhängt Strafen.
Beim Verband gibt man sich von den FOCUS-Recherchen überrascht. Sprecher Volkmar Laube: „Der Fall ist uns bislang nicht bekannt.“ Man werde zunächst das Gespräch mit Kammrad suchen. „Sollte sich der Verdacht erhärten, würden wir ihn bitten, die Konsequenzen zu ziehen.“